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Saskia Nitschmann begleitet Frauen aus der Prostitution.

© Gestaltung: Tagesspiegel/Schuber/Foto: Ksenia Apresyan für den Tagesspiegel

Berliner Ausstiegsbegleiterin über Prostitution: „Es gibt nette Freier, aber keine guten“

Saskia Nitschmann hilft Frauen aus der Prostitution. Selbstbestimmte Sexarbeit gebe es nur in Einzelfällen, sagt die 25-Jährige. Doch um das einzusehen, sei die Öffentlichkeit zu bequem.

Die Berlinerin Saskia Nitschmann engagiert sich beim Verein Sisters, der Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution hilft. In der neuen Folge des Tagesspiegel-Podcasts „Tatort Berlin“ spricht die 25-Jährige darüber, wie sich die Prostitution in Berlin seit der Corona-Pandemie verändert hat, welche Schäden sie bei den Frauen anrichtet und ob es auch „gute Freier“ gibt.

Frau Nitschmann, Ihre Arbeit als Ausstiegsbegleiterin gewährt Ihnen tiefe Einblicke in die Biografien und Lebensrealitäten der Berliner Prostituierten. Wie frei und selbstbestimmt arbeiten die Frauen? 
Der Grund, warum sie in der Prostitution landen, ist hauptsächlich Zwang. Wobei das nicht immer bedeutet, dass sie von der Straße gegriffen und irgendwo an einen Heizkörper gekettet werden. Der Zwang kann ein wirtschaftlicher sein, oder auch dass ihnen falsche Versprechungen gemacht wurden. Zum Beispiel werden viele Rumäninnen und Bulgarinnen nach Berlin gelockt, indem man ihnen Jobs in der Pflege oder als Putzkraft anbietet. Hier angekommen nimmt man den Opfern dann oft den Pass weg und behauptet sogenannte „Schlepper-Schulden“: Es heißt dann, durch den Transport seien hohe Kosten entstanden, und die müsse die Frau jetzt erst mal abarbeiten. 

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Stimmt es, dass sich seit einem Jahr vermehrt auch Ukrainerinnen in Berlin prostituieren?
Das ist nicht zu übersehen. Einerseits haben Kriminelle Frauen aus der Ukraine in Autos hergebracht, aber eben nicht in Sicherheit, sondern direkt in ein Bordell oder eine Wohnung zum Anschaffen. Andererseits haben sie unter den Geflüchteten Flyer verteilt, die auf Ukrainisch und Russisch darüber informierten, dass Sexarbeit in Deutschland legal ist. Das wurde also aktiv beworben, und im Netz jubeln Männer in Freierforen darüber, wie viel ukrainisches „Frischfleisch“ hier auftaucht. 

Sie berichten von den enormen psychischen Schäden, die Frauen durch die Prostitution erleiden. Aber auch von körperlichen …
Sehr viele Frauen haben Rücken- und Hüftprobleme von dem Gewicht, das während des Verkehrs auf ihnen lastet, auch von der Gewalttätigkeit, mit der das oft passiert. Bei einer Frau, die ich betreut habe, waren die Hüfte und ein Knie so kaputt, dass es wirkte, als sei ein Bein kürzer als das andere. Durch den repetitiven, häufigen Sexualverkehr droht auch viel Schaden im Genitalbereich. Es entstehen Risse, es bildet sich Narbengewebe. Das kann zu großen Schmerzen führen. Es entstehen Entzündungen, die dauerhafte Schäden anrichten. Das ist gerade bei analen Praktiken sehr gefährlich. Dazu kommt, dass viele Freier trotz Kondompflicht auf kondomfreiem Sex bestehen. Weil die prostituierten Frauen auch während ihrer Periode durcharbeiten und die Freier davon nichts mitbekommen sollen, führen sie sich kleine Schwämme sehr tief ein, was ebenfalls zu Infektionen führen kann. Hinzu kommen Kopfschmerzen, Kieferprobleme, Zahnprobleme …

Viele Prostituierte seien alkoholabhängig, aber auch Heroin und Speed spielten eine Rolle, sagt Nitschmann.
Viele Prostituierte seien alkoholabhängig, aber auch Heroin und Speed spielten eine Rolle, sagt Nitschmann.

© Doris Klaas Tsp

Welche Rolle spielt Drogensucht?
Abhängigkeit ist ein weitverbreitetes Problem in der Szene. Also von Alkohol, aber auch Heroin oder Speed. Die Sucht wird teilweise von ihren Zuhältern oder „Managern“ nicht nur übersehen, sondern aktiv gefördert. Denn wer unter Drogeneinfluss steht, sagt seltener Nein, ist leichter zu manipulieren und bleibt länger wach. Man wirkt auch glücklicher auf die Freier. Außerdem bietet sich den Zuhältern eine weitere Einnahmequelle: Sie verdienen zusätzlich an den Frauen, die sie abhängig gemacht haben.

Im Podcast sprechen wir ausführlich über einen Berliner Zuhälter, der behauptet, bei ihm herrschten faire Arbeitsbedingungen, bei ihm könnten auch die Frauen die Freude an ihrer Lust ausleben. Und der dafür tatsächlich als Lichtgestalt gefeiert wird – bis irgendwann die wahren Zustände bekannt werden. Wieso können solche Typen so lange damit durchkommen?
Ich denke, das ist eine Frage der Bequemlichkeit. Der deutschen Öffentlichkeit kommt die Vorstellung sehr gelegen, dass Menschenhandel zwar wohl existiert, dass es aber eben auch seriöse Dienstleister und Bordelle gibt, dass Prostitution ein Beruf ist wie jeder andere. Dann kann man es nämlich so laufen lassen. Und der Staat profitiert durch Steuereinnahmen. Es macht mich wirklich fertig zu sehen, wie wenig zum Schutz von prostituierten Frauen getan wird, wie wenig sich dafür interessiert wird, wie teilweise im Fernsehen Witze über die Prostitution in Deutschland gerissen werden. Und der Durchschnittsbürger lacht, weil er die Zustände nicht kennt. 

In Talkshows treten aber auch Prostituierte auf, die ein völlig anderes Bild der Branche zeichnen als Sie. Diese Frauen berichten von selbstbestimmter Sexarbeit. Lügen die etwa?
Nein, solche Fälle gibt es. Aber es ist eine ganz kleine Minderheit, die medial umso mehr hofiert wird. Das gibt ein arg verzerrtes Bild, weil eben nicht klar kommuniziert wird, dass es sich hier um eine privilegierte Gruppe von Einzelpersonen handelt, die nicht für das Gros der prostituierten Menschen spricht.

Sie haben an einer Studie mitgeschrieben, bei der Freier interviewt wurden. Was können Sie über den durchschnittlichen Bordellbesucher berichten?
Er ist ein vergleichsweise frauenfeindlicher Mensch, der etwa glaubt, dass Prostituierte gar nicht vergewaltigt werden können, weil sie während des Verkehres eh keine Rechte haben. Er ist ein vergleichsweise sexuell egoistischer Mensch, dem es egal ist, ob sie dabei Spaß oder Schmerzen hat. Und der sehr wohl Ausbeutung und Menschenhandel mitbekommt – und trotzdem den von ihm bezahlten Sex verlangt. 

Wie viel Gewalt geht von Freiern aus?
Seit 2002 wurden in Deutschland mindestens 105 prostituierte Frauen getötet. Ein Großteil von Freiern, der Rest von Zuhältern. Ein wiederkehrendes Motiv dabei ist Anspruchs- und Besitzdenken. Zum Beispiel wenn Frauen sich verweigern, Nein sagen, Grenzen ziehen. Oder wenn der Körper des Freiers nicht mitmacht, er also keinen hochkriegt oder sonst etwas schiefläuft, dann kommt es vor, dass der Freier der Prostituierten die Schuld gibt und sich rächt.

Aber es existiert doch das Klischee des netten Freiers, der eigentlich gar keinen Sex will, sondern Geborgenheit sucht und reden will. Ist da nichts dran? 
Natürlich gibt es auch nette Freier. Aber keine guten. Wenn ein Mann einer Frau Geld gibt, um sie sexuell benutzen zu dürfen, kann das kein guter Mensch sein. Ganz egal, wie freundlich oder zuvorkommend er in diesem Moment vielleicht ist. Wenn du weißt, dass sie nur mit dir schläft, weil du sie bezahlst, weißt du, dass sie eigentlich nicht mit dir schlafen möchte. Da spielt es keine Rolle, wie sehr sie dir vorher schöne Augen macht, weil sie das Geld braucht – oder wie sehr du es dir hinterher schönredest. 

Das Dunkelfeld-Argument finde ich absurd, weil ich mir kaum vorstellen kann, wie das ‚Feld’ in Deutschland ‚noch dunkler’ werden könnte. 

Saskia Nitschmann

Wie sieht Ihre Arbeit als Ausstiegsbegleiterin beim Verein Sisters konkret aus? 
Wir wollen niemanden zum Ausstieg zwingen. Der erste Schritt ist deshalb immer, dass sich eine Frau an uns wendet. Dann schauen wir uns an, in welcher Lage sie sich konkret befindet. Was braucht sie am dringendsten? Meist ist das erst mal eine Wohnung. Viele übernachten in den Bordellen oder in von Zuhältern bereitgestellten Wohnungen, ohne Mietvertrag und Meldeadresse. Außerdem begleiten wir die Frauen auf Wunsch zu Ämtern, zu Ärzten, übersetzen auch. 

Was sind die größten Fallstricke für Frauen, die rauswollen? 
Oft sind es Schulden. Also solche, wegen derer sie in die Prostitution gerutscht sind – aber auch solche, die sich erst während ihrer Tätigkeit angehäuft haben, einfach weil sie nicht genug eingenommen haben, ihre Einnahmen teilweise abgeben mussten oder sie in Laufhäusern für die Anmietung der Zimmer mehr zahlen mussten, als dann wieder reinkam. Frauen müssen dort jeden Tag erst mal drei bis vier Freier bedienen, um nicht neue Schulden zu machen. Das ist eine Ausbeutung innerhalb der Ausbeutung. Sobald diese Frauen jedenfalls wieder eine Meldeadresse haben, trudeln die Briefe der Inkassofirmen ein. Auch die Krankenkassen verlangen hohe Summen, wenn die Frauen sich nach Jahren wieder anmelden möchten. Die in der Zwischenzeit angefallenen Beiträge müssen nachträglich gezahlt werden.

Die absolute Mehrheit der Prostitutionsstätten und der prostituierten Frauen in Deutschland sind laut Nitschmann nicht angemeldet, also illegal.
Die absolute Mehrheit der Prostitutionsstätten und der prostituierten Frauen in Deutschland sind laut Nitschmann nicht angemeldet, also illegal.

© imago images/Jürgen Ritter

Wie viele Frauen, denen Sie helfen, schaffen den Absprung dauerhaft?
Mehr als die Hälfte. Haben sie erst eine gesicherte Bleibe, einen neuen Job und ein anderes soziales Umfeld, haben sie Freundinnen und Kolleginnen, mit denen sie abends ausgehen, dann gibt es viel Anlass zur Hoffnung. Aber natürlich sind auch Rückfälle möglich. Denn die Prostitution ist ja etwas, was die Frauen kennen. Und in der menschlichen Psychologie ist ein bekanntes Übel angenehmer als ein unbekanntes, wenn beide sich erst mal gleich anfühlen. Weil die Frauen natürlich schon Strategien haben, wie sie sich dann abschalten, wie sie sich klein machen, auch wie sie Freier finden und wie sie auf der Straße zurechtkommen. Das müssen sie nicht erst neu lernen.

Ihr Verein fordert Gesetzesänderungen. Sie sprechen sich für das sogenannte nordische Modell aus.
Das ist ein Bündel politischer Maßnahmen. Dazu zählen beispielsweise staatliche Ausstiegshilfen, aber auch Aufklärungskampagnen in der Bevölkerung über das Leid der Prostituierten. Zudem braucht es eine stärkere Strafverfolgung von Menschenhändlern. Auch Freier sollen bestraft werden. Den prostituierten Menschen selbst soll keine Strafe drohen, auch keine Bußgelder. Für sie sollte der Staat eine Anlaufstelle sein und keine Gefahr.

Kritiker dieses Konzepts warnen, es dränge die Prostituierten in die Illegalität, wo die Frauen dann noch weniger geschützt seien.  
Das Dunkelfeld-Argument finde ich absurd, weil ich mir kaum vorstellen kann, wie das „Feld“ in Deutschland „noch dunkler“ werden könnte. Die absolute Mehrheit der Prostitutionsstätten und der prostituierten Frauen sind ja bereits heute nicht gemeldet, also illegal.

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