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Die Bordelle sind geschlossen. Sexarbeiterinnen müssen im Verborgenen weiterarbeiten.

© istock/Getty Images

Die verborgene Prostitution in Corona-Zeiten: „Es ekelt mich so, aber wo soll ich hingehen?“

In Berliner Tiefgaragen, Parks und auf dem Strich findet Prostitution trotz Corona längst wieder statt. Die Bedingungen sind schlimmer denn je. Ein Report. 

Eigentlich wollten sie direkt vor dem Bundesrat stehen. Wollten die Ministerpräsidenten, wenn diese Freitagfrüh zur letzten Sitzung vor der Sommerpause anrücken, auf dem Bürgersteig abfangen. Leider sind dort bereits die Tierschützer, die hatten ihre Kundgebung zuerst angemeldet.

Also muss Stephanie Klee mit ihren Mitstreitern etwas weiter westlich am Leipziger Platz demonstrieren. Es gibt Plakate, Flugblätter und aufgeblasene Sexpuppen, auf einem Stoffbanner steht ihre zentrale Forderung: „Öffnet die Bordelle jetzt!“

Stephanie Klee und ihre Mitstreiter wollen erreichen, dass die Bordelle wieder öffnen
Stephanie Klee und ihre Mitstreiter wollen erreichen, dass die Bordelle wieder öffnen

© Sebastian Leber

Unter den mehreren dutzend Demonstranten befinden sich Prostituierte, Bordellbesitzer, Freier. Sie alle verlangen, es müsse Schluss sein mit dem Betätigungsverbot zum Schutz vor Corona. Leider taucht an diesem Morgen kein einziger Politiker auf. Die Ministerpräsidenten lassen sich in ihren schwarzen Limousinen direkt am Bundesrats-Eingang absetzen, die Tierschützer sind im Vorteil.

Ich werde also gleich doppelt diskriminiert

Stephanie Klee, Sexarbeiterin

Stephanie Klee, die Anmelderin der Demo, ist Gründerin des Bundesverbands Sexuelle Dienstleistungen (BSD) und selbst Sexarbeiterin. Sie sagt, sie persönlich habe die Coronakrise besonders hart getroffen, denn erstens sei die Prostitution generell untersagt und zweitens habe sie viele Stammkunden in Alters- und Pflegeheimen, dort dürfe sie derzeit ja sowieso nicht rein. Stephanie Klee sagt: „Ich werde also gleich doppelt diskriminiert.“

Die ganze Branche, das gesamte Geschäftsmodell steckt in einem Dilemma: Prostituierte, die sich an die Regeln halten, verdienen kein Geld und müssen im Zweifel um ihre Existenz fürchten. Prostituierte, die das Verbot ignorieren, haben ein hohes Risiko, sich anzustecken – oder andere.

Alle Bordelle sind dicht

Denn Prostitution findet weiter statt, und das unter den übelsten Bedingungen. Zum Beispiel auf dem Straßenstrich in Berlin-Tiergarten, keine zwei Kilometer vom Leipziger Platz entfernt.

Neben Stephanie Klee erzählt ein großgewachsener Mann, er sei regelmäßiger Besucher verschiedener Berliner Bordelle und, na klar, auch bereit zu einem Interview. Er heiße Frank, unterstütze die Forderung der Demo. Als nächstes zählt Frank die Läden auf, die er gern aufsucht, sagt Sätze wie „Ich bin ein richtig aktiver Ficker.“ Dann sagt er plötzlich: „Okay, wollen wir mal mit offenen Karten spielen.“ Er sei gar kein Kunde, sondern Betreiber eines Bordells in Wilmersdorf. Und gerade ein bisschen genervt, dass sich so wenig Menschen zum Protest versammelt hätten.

Seit der Berliner Senat Mitte März sein erstes Corona-Maßnahmenpaket beschloss, sind alle Bordelle dicht. Doch während andere Branchen nach und nach von Lockerungen profitierten, auch Tattoostudios und Friseursalons wieder öffnen durften, scheint dies für die Prostitution in nächster Zeit undenkbar. Verbotsgegner argumentieren: Wenn sogar Massagen wieder möglich sind, wieso kann man dann nicht auch solche erlauben, bei denen der Penis gleich mitmassiert wird?

Würden Kunden ihre Kontaktdaten wirklich angeben?

Die politisch Verantwortlichen verweisen auf mehrere Risikofaktoren, die bei der Prostitution zusammenkommen: Verkehr findet meist in geschlossenen Räumen statt, die Atemfrequenz der Beteiligten und damit der Ausstoß von Tröpfchen und Aerosolen sind erhöht, ein Mindestabstand ist nicht möglich, vor allem ist das Gewerbe weiterhin schambesetzt.

Würden Kunden tatsächlich, wie im Restaurant, freiwillig ihre Namen und Kontaktdaten hergeben, damit im Ernstfall Infektionsketten nachvollzogen werden und so ein Ausbreiten des Virus eingedämmt werden kann?

Die Hygienevorstellungen mancher Freier sind problematisch

Mimi, Sexarbeiterin

Natürlich nicht, sagt Mimi vom Netzwerk Ella, einem Zusammenschluss aktiver und ehemaliger Sexarbeiter. Mimi hat selbst jahrelange Erfahrung im Geschäft. Am Telefon sagt sie, die Mehrzahl ihrer Kunden sei entweder verheiratet oder in einer festen Beziehung gewesen – hätte also allen Grund, Identität und Wohnadresse zu verheimlichen.

Mimi berichtet auch von „problematischen Hygienevorstellungen“. Viele Kunden hätten das Angebot, sich nach dem Sex zu waschen, ausgeschlagen. Solche Männer gingen dann, nachdem sie Oralverkehr mit einer Prostituierten hatten, nach Hause und küssten dort vielleicht ihre Ehefrau auf den Mund. „Die nun für strenge Hygieneregeln zu sensibilisieren, ist einfach nicht realistisch“, sagt Mimi. Und dass es unverantwortlich wäre, Bordelle jetzt wieder zu öffnen: „Wie ich das einschätze, sollten wir auf einen Impfstoff oder wenigstens ein Medikament warten.“

Der Druck war enorm, zu jeder noch so riskanten Praktik Ja zu sagen

Gerhard Schönborn, Sozialarbeiter

Zur Wahrheit gehört auch, dass die Prostitution in Berlin weiterhin stattfindet. Nicht in den großen Bordellen, aber in Privatwohnungen, Tiefgaragen, Parks. Und auf Berlins einzig verbliebenem Straßenstrich rund um die Kurfürstenstraße. Bis vor kurzem drohten sowohl Prostituierten als auch Freiern Bußgelder zwischen 250 und 5000 Euro. Das war fatal, sagt Gerhard Schönborn, der Vorsitzende des christlichen Vereins „Neustart“.

Gerhard Schönborn, Vorsitzender von „Neustart“
Gerhard Schönborn, Vorsitzender von „Neustart“

© Sebastian Leber

Mittwochnachmittag sitzt er im Café des Vereins im östlichen Abschnitt der Kurfürstenstraße. Seit 16 Jahren kümmert er sich um Nöte von Prostituierten. In der Coronakrise hätten diese stark zugenommen, denn gerade hier auf dem Straßenstrich gebe es etliche Frauen, die nicht einfach aufhören können. Weil sie stark überschuldet sind, weil sie ihren Drogenkonsum finanzieren müssen, weil sie zum Teil auf der Straße leben. „Dass ihnen nun auch noch hohes Bußgeld drohte, hat ihre Situation zugespitzt.“

Ein Notfonds für Prostituierte soll helfen

Zumindest zu Beginn der Beschränkungen seien Kunden weggeblieben. Die Abhängigkeit von den verbliebenen Männern sei so gewachsen. „Der Druck war enorm, zu jeder noch so riskanten Praktik Ja zu sagen.“ In den Wochen des Lockdowns verteilten Schönborn und seine Mitstreiterinnen Brot und Lebensmittelkarten, Desinfektionsflaschen, Masken, Kondome. Sie initiierten einen Notfonds für Prostituierte, 17 000 Euro kamen zusammen.

Inzwischen hat der Senat die Verordnung geändert. Prostitution bleibt untersagt, doch nur den Freiern droht Strafe. „Finde ich gut“, sagt Gerhard Schönborn. „Das sind schließlich die Verursacher.“ Das Leben der Frauen werde so etwas weniger angsterfüllt.

In der Kurfürstenstraße findet längst wieder Prostitution statt.
In der Kurfürstenstraße findet längst wieder Prostitution statt.

© imago images / Rolf Kremming

Als Schönborn eben draußen vor den Treppenstufen seines Cafés stand, spazierte eine Handvoll Prostituierter auf dem Bürgersteig auf und ab. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sich das nächste Geschäft anbahnte. Ein junger Mann sprach eine der Frauen an, sie wurden sich schnell einig, gingen ein paar Meter weiter in die angrenzende Froebenstraße und verschwanden in einer der so genannten Verrichtungsboxen, die der Bezirk vor wenigen Wochen aufgestellt hat.

„Die hölzernen Boxen sind gleichzeitig Toiletten“, sagt Gerhard Schönborn, „und sie sind widerlich.“ Wenn Schönborn einen Blick rein wirft, liegen oft Spritzen, Kondome und Feuchttücher herum, der Boden ist fäkalienverschmiert. Prostituierte sagten ihm: „Es ekelt mich so, aber wo soll ich hingehen?“

Wir wissen, wie man sich vor Tripper und HIV schützt - da werden wir auch mit Corona zurecht kommen

Josefa Nereus, Sexarbeiterin

In mehreren Bundesländern versuchen Bordellbetreiber, das Sexverbot auf juristischem Weg zu kippen. In Berlin stellte das Schöneberger Bordell „Liberty“ einen Eilantrag, der jedoch vor dem Verwaltungsgericht scheiterte.

Auch Sexarbeiterin Josefa Nereus, die einen populären Youtube-Kanal betreibt, setzt sich für die schnelle Rückkehr in den Berufsalltag ein. Einerseits wisse man in ihrer Branche, „wie man sich vor Tripper, HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten schützt – da werden wir auch mit Corona noch zurechtkommen.“

Die Realität sieht anders aus

Andererseits seien mit dem Prostituiertenschutzgesetz vor drei Jahren ohnehin sehr umfangreiche Hygienestandards verankert worden: „Jedes Bordell, das es heute gibt, hat diese Prüfung durch den Staat, durch eine Behörde durchgemacht und bestanden, sonst gäbe es diesen Laden nicht.“

Das ist, zumindest in Berlin, weit von der Realität entfernt. Von den geschätzten 500 Bordellen haben bis heute, drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, nicht einmal die Hälfte einen Antrag gestellt. Von diesen wiederum hat nur ein Bruchteil ein Zertifikat bekommen. „Die anderen machen einfach weiter wie bisher“, sagt Gerhard Schönborn. „Sie stellen keinen Antrag und müssen auch keine Sanktionen befürchten.“

Neben dem BSD gibt es eine zweite große Lobbyvereinigung in der Branche: den Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BESD). Deren politische Sprecherin, Johanna Weber, sagt am Telefon, das Ausbleiben von Lockerungen in ihrer Branche liege auch daran, dass die Bundesregierung das Thema auf die Länder abgewälzt habe. „Und keines will als erstes lockern.“ Zu groß sei die Furcht vor einem Aufschrei der Medien und der Öffentlichkeit. „Die warten lieber ab, was die anderen Länder machen.“

Bitte nicht ins Auto beugen

Zur Überwindung der Coronakrise hat der BESD ein Hygienekonzept ausgearbeitet, laut Eigenaussage „gemeinsam mit verschiedenen Gesundheitsämtern“. Das Konzept ist neun Seiten lang, listet Sicherheitsregeln für Wohnungen, Escortservices und den Straßenstrich auf. Die Verfasser plädieren für Maskenpflicht, bei Stammkunden müsse zur Begrüßung auf Händeschütteln verzichtet werden.

Beim Sex müsse „zwischen den Köpfen der beiden Personen ein Abstand von mindestens einer Unterarmlänge sein“. Auf dem Straßenstrich sollten Prostituierte sich beim sogenannten Anbahnungsgespräch „nicht in das Auto hineinlehnen“.

Ist es auch nur halbwegs realistisch, dass Freier und Prostituierte, sobald sie in einem geschlossenen Raum unter sich sind, Maskenpflicht und Abstandsregeln beachten?

Telefonnummer statt Wohnadresse

Na klar, sagt Johanna Weber. Bei der Thaimassage könne das ja auch nicht kontrolliert werden. Die übrigen Regeln wie das Hinterlegen von Adressen seien ebenfalls gut umsetzbar.

Müssten die Freier ihre Ausweise vorzeigen, um sicherzustellen, dass sie keine Fantasienamen und -adressen angeben?

Nein, sagt Johanna Weber. Das solle auf Vertrauensbasis geschehen. „Wir brauchen da praktikable, realistische Lösungen.“ Sie persönlich fände es gut, dass statt Wohnadresse einfach die Telefonnummer oder E-Mail-Adresse bei der Terminvergabe notiert würden.

Wenn man Johanna Weber fragt, welche Gesundheitsämter genau ihr Hygienekonzept mitentwickelt haben, kommt heraus: Es war kein einziges Gesundheitsamt beteiligt. Nur einzelne Mitarbeiter, mit denen Johanna Weber in Kontakt steht, hätten ehrenamtlich, abends in ihrer Freizeit, Tipps gegeben. Die Namen der Experten könne Weber nicht herausgeben.

Auch abseits der Kurfürstenstraße ist es für Freier nicht schwer, Prostituierte zu finden, die das Verbot ignorieren. Sie tauschen sich im Internet aus, geben sich gegenseitig Tipps. Auf einer populären Seite werden dutzende Berliner Adressen empfohlen: eine Garage in der Pankstraße, eine Wohnung in Friedhofsnähe in Hohenschönhausen, der Massagesalon in Südneukölln, die Privatunterkunft nahe Lehniner Platz. Sie berichten auch von Bordellen, die auf ihrer Homepage weiterhin „geschlossen“ vermerken, tatsächlich aber Termine vergeben.

Vertrauen ist rar in dieser Branche

Die Männer, die dort schreiben, bezweifeln, dass Corona mehr sei als eine gewöhnliche Grippewelle. Und die sei ja auch kein Grund, nicht mehr ins Bordell zu gehen. Die Männer geben sich auch Ratschläge, wie sich die Prostituierten dazu drängen lassen, auf das Kondom zu verzichten. Manche dieser Ratschläge lesen sich wie Aufforderungen zur Vergewaltigung.

Um die politisch Verantwortlichen zu überzeugen, dass auch Prostitution in dieser Zeit risikoarm stattfinden kann, bräuchte es Vertrauen. Aber wo soll das Vertrauen herkommen in einer Branche, in der sich Bordellbetreiber in Interviews erst einmal als Freier ausgeben, in der sich eine Sexarbeiterin „doppelt diskriminiert“ fühlt, weil sie derzeit keine Altersheime betreten darf, und in der Hygienekonzepte nur so lange „gemeinsam mit Gesundheitsämtern“ erarbeitet wurden, bis mal jemand nachfragt?

Man müsste viel Geld in die Hand nehmen, um den Frauen wirklich zu helfen

Gerhard Schönborn, Sozialarbeiter

Statt über eine Lockerung nachzudenken, nimmt in der Politik die Forderung nach einer grundsätzlichen gesetzlichen Neuausrichtung zu. 16 Bundestagsabgeordnete der Regierungsfraktionen, darunter SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und Unionsvize Hermann Gröhe, haben einen offenen Brief verfasst, in dem sie für die bundesweite Einführung des „Nordischen Modells“ plädieren: Das untersagt Prostitution, sieht aber nur für die Freier Strafen vor. So ähnlich wie aktuell in Berlin, aber permanent.

Johanna Weber vom BESD kritisiert den Vorstoß scharf: „Das sind Menschen, die ein persönliches Problem mit Prostitution haben, vermengt mit dem eigenen Trugschluss, man sorge sich um die Frauen.“ Die Coronakrise werde ausgenutzt für Meinungsmache und zum Weichenstellen.

Gerhard Schönborn, der Neustart-Vorsitzende, sagt: Er könne sich ein Sexkaufverbot nur vorstellen, wenn es gleichzeitig Aufklärung und staatliche Ausstiegshilfen gebe: „Man müsste viel Geld in die Hand nehmen, um den Frauen wirklich zu helfen.“

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