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Kindernotdienst in der Gitschiner Strasse 48 in Berlin Kreuzberg und Porträt der Leiterin Beate Köhn. Die Kinderschutz-Hotline wird am 1. November 2007 ein halbes Jahr alt Foto: Kitty Kleist-Heinrich

© Kitty Kleist-Heinrich TSP

Update

Brandbrief an Berliner Senat : Überlastung und Gewaltvorfälle – Kindernotdienst warnt vor Zusammenbruch

In einem Brandbrief schildern Mitarbeitende des Kindernotdienstes Berlin alarmierende Zustände in der Einrichtung. Kinder seien dort monatelang, Gewalt sei an der Tagesordnung.

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In einem Brandbrief an Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch (beide CDU) haben Mitarbeitende des Kindernotdienstes erneut alarmierende Zustände in der Einrichtung geschildert. „Unter unserem eigenen Dach kommt es regelmäßig zu Kindeswohlgefährdungen“, heißt es in dem vierseitigen Dokument, das am Mittwoch veröffentlicht wurde. Durch strukturelle Überlastungen stehe der Kindernotdienst vor dem Zusammenbruch, der Kinderschutz könne nicht mehr sichergestellt werden – „eine Katastrophe mit Ansage“.

Schwer traumatisierte Kinder müssten aufgrund fehlender Angebote statt weniger Tage monatelang im Kindernotdienst Berlin verbringen. Die Frustration und Verzweiflung führe zu Selbst- und Fremdverletzungen, zu körperlichen und sexualisierten Übergriffe. Darunter würden vor allem jüngere schutzbedürftige Kinder leiden: „Einige der Kinder bewaffnen sich mit spitzen Gegenständen oder Messern, um sich vor Übergriffen zu schützen oder selbst welche zu begehen.“ Polizei und Rettungsdienste seien Dauergäste im Kindernotdienst, heißt es weiter.

Schon lange hat der Berliner Kindernotdienst den Senat, die bezirklichen Jugendämter und Kooperationspartner vor dramatischen Zuständen in den Einrichtungen gewarnt. Bereits im März dieses Jahres hieß es, dass die Einrichtung Kindern wegen der schwierigen Personallage zeitweilig keine sichere Zuflucht mehr bieten konnte. Der Senat spielte die Probleme damals herunter und registrierte „eine unauffällige Zahl“ von Krankenständen.

Doch trotz zahlreicher Versuche in Medien und Politik auf die Gefährdungen im Kindernotdienst aufmerksam zu machen, sei es nur zu einer weiteren Zuspitzung gekommen, heißt es nun von den Mitarbeitenden. Die unaushaltbare Situation führe zu „Krankheit, Rückzug, Selbstschutz, Resignation“. Allein im Betreuungsbereich, in dem neun Personen arbeiten, seien bis Anfang Mai über 1000 Überstunden angefallen.

Der Notdienst fordert nun umfassende Maßnahmen für eine bedarfsgerechte Versorgung, unter anderem eine sofortige zweite Gruppe in dem Kindernotdienst sowie mehr und adäquate Krisen- und Folgeangebote. Andernfalls sei ein Vorfall wie in Freudenberg nicht auszuschließen. Im März hatten dort ein 12- und 13-jähriges Kind ein die 12-jährige Luise getötet. So heißt es: „Wir sagen an dieser Stelle in aller Deutlichkeit, dass dazu nicht mehr viel fehlt. Sei es durch Fehleinschätzungen aufgrund unzureichenden Personals, sei es durch Selbstverletzung oder körperliche Übergriffe.“

Jugendstaatssekretär will die Einrichtung kommende Woche besuchen

Jugendsenatorin Günther-Wünsch sagte dem Tagesspiegel, dass sie den Brief mit großer Ernsthaftigkeit zur Kenntnis genommen habe. „Der Schutz von Kindern und Jugendlichen hat für den Senat hohe Priorität.“ Ihre Verwaltung halte die Eröffnung eines vierten Standortes und damit verbunden einen entsprechenden Platzausbau für dringend geboten. „Dieser vierte Standort sollte besonders versorgungsintensiven Kindern und Jugendlichen dienen“, sagte Günther-Wünsch.

Nach Tagesspiegel-Informationen wird Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) in der kommenden Woche die Einrichtung in der Glitschiner Straße besuchen, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen und sich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auszutauschen.

Die jugendpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion Marianne Burkert-Eulitz sieht ein strukturelles Problem in der Jugendhilfe an der Schnittstelle zur Psychiatrie, da Kinder etwa nach massiven Gewalterfahrungen und Traumatisierungen keine adäquaten Hilfen finden, weil sie wegen ihres fremd- und eigengefährdenden Verhaltens immer wieder aus den Hilfen fallen.

Der Kindernotdienst ist das Auffangbecken, wo diese Kinder landen, wenn sie sonst keine Hilfe bekommen.

Marianne Burkert-Eulitz (Grüne), Kinder- Jugendpolitikerin

„Der Kindernotdienst ist das Auffangbecken, wo diese Kinder landen, wenn sie sonst keine Hilfe bekommen und dann monatelang dort verbleiben müssen und aus Verzweiflung auffällig oder sogar gewalttätig werden“, sagt Burkert-Eulitz. Die Einrichtung sei nicht der richtige Ort für sie. „Daher muss sofort an der Entlastung für diese Kinder und die Beschäftigten gearbeitet werden und entsprechende Angebote geschaffen werden.“

Der Kindernotdienst ist die zentrale Kriseninterventionseinrichtung des Landes Berlin außerhalb der Öffnungszeiten der bezirklichen Jugendämter. Vorgesehen ist, dass Kinder hier wenige Tage verbringen, bis sie ein passendes Angebot der öffentlichen Jugendhilfe erhalten. Auch berät der Kindernotdienst Familien in Krisen.

Burkert-Eulitz begleitet die Nöte des Kindernotdienstes seit Jahren vom Abgeordnetenhaus aus. Auch kurz vor der Wahl im März hatte sie mittels parlamentarischer Anfrage versucht, mehr Informationen zu bekommen. Damals antwortete der damalige Jugendstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD), dass die durchschnittliche Verweildauer der Kinder bei fünfeinhalb statt gewünschter drei Tage liege.

Ein vierter Standort ist schon länger im Gespräch

Dass es ungelöste Probleme gab, war aber auch an den Antworten schon ablesbar. Daher kündigte Bozkurt an, dass am „räumlichen und fachlichen Konzept“ gearbeitet werde, um „im Bedarfsfall vorübergehend untergebrachte Kleinkinder räumlich getrennt in der Beratungsstelle zu betreuen“. Zudem sei die Einrichtung eines vierten Standortes „zur intensivpädagogischen Kurzbetreuung von Kindern und Jugendlichen mit komplexen Hilfebedarfen“ in Planung.

Das sei notwendig „aufgrund ihrer Verhaltensweisen“, darunter „hohe Selbst- und Fremdgefährdung“. Die Anmeldung der Mittel für diesen offenbar dringend benötigten weiteren Standort avisierte Bozkurt dennoch erst für den Haushalt 2024/25.

Bozkurts Ausführungen und Vorschläge reichten offenbar nicht, um die Sorgen und Nöte der Beschäftigten einzudämmen oder gar die Lage zu verbessern, weshalb es zu einem Krisenbericht im RBB kam. Der machte die Problematik offenbar drastisch klar. Jedenfalls fußte darauf eine weitere Anfrage, diesmal von Tommy Tabor (AfD).

Der Senat prüft die Einrichtung eines Kinderschutzteams für jeden Bezirk.

Kai Wegner (CDU), Regierender Bürgermeister

Das war im Mai, also nach der Wahl, sodass Bozkurt inzwischen durch Falko Liecke (CDU) ersetzt war. Der räumte ein, dass es „an der Schnittstelle“ von Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht ausreichend stationäre Plätze gebe. Das gelte auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Zudem fehlten Plätze zur Kurzzeit- und Krisenunterbringung, sagte Liecke.

Unterm Strich führten die Zustände im Kindernotdienst dazu, dass der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) in seiner Regierungserklärung von Mitte Mai bestätigte, dass die Eröffnung eines vierten Standortes „für versorgungsintensive Kinder und Jugendliche dringend notwendig“ sei. Zudem prüfe der Senat, die „Einrichtung eines Kinderschutzteams für jeden Bezirk“ und darüber hinaus eine „Einrichtung zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit sozialen, emotionalen und psychischen Beeinträchtigungen“.

Auf die Frage, warum die seit langem bekannten Probleme nicht längst gelöst seien, antwortete Burkert-Eulitz, es handele sich um eine „komplexe Materie“. Erschwerend sei die Pandemie hinzugekommen. Auch die Aufnahme der vielen minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten habe „sicher dazu geführt, dass Prozesse nicht weitergegangen sind“.

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