zum Hauptinhalt
Zufluchtsort. Die Gemeinde von Pfarrer Oleh Polianko erlebt seit Kriegsbeginn in der Ukraine einen enormen Zulauf.

© Nadiia Kulisch

Ukrainner:innen in Berlin: „Die Trennung der Familien ist eine große Prüfung“

In einer unabhängigen ukrainisch-orthodoxen Kirche in Schöneberg finden Geflüchtete inneren Halt und ein offenes Ohr.

Seine Entschlossenheit ist unerschütterlich. „Das sind unsere Ukrainerinnen und Ukrainer“, sagt Pfarrer Oleh Polianko. Der Geistliche, gelbes Gewand, graues Haar, freundliche Augen, steht in der Evangelischen Kirche des Heiligen Apostel Paulus am Grazer Platz in Berlin-Schöneberg und erklärt, wie er hier versucht, seinen Landsleuten die spirituelle Heimat zu bieten, die sie nach der Flucht suchen.

Eine eigene ukrainische Gemeinde zu gründen, sagt Polianko, sei spätestens mit dem Euromaidan notwendig geworden, als bei Auseinandersetzungen zwischen Demokratie–Aktivisten und den damaligen Machthabern in Kiew rund 100 Protestierende starben. Damals stand die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats noch auf der Seite der vom Kreml gesteuerten Janukowitsch-Regierung. „Als der Maidan blutete und die Unabhängigkeitsrevolution begann, sagten auch die Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin: Wir brauchen eine eigene Ukrainisch-Orthodoxe Kirche“, erzählt Polianko. 2015, nach dem Kriegsausbruch in der Ostukraine, war es dann so weit: In Berlin entstand die erste ukrainische Gemeinde, die vom Moskauer Patriarchat unabhängig ist.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Zu den Gottesdiensten in der kleinen Dorfkirche von Alt-Hermsdorf, die die ukrainischen Gläubigen zunächst aufgenommen hatte, kamen anfangs 20 bis 30 Menschen. Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar reichte dieses Provisorium nicht mehr aus. Jetzt, wo eine Viertelmillion Kriegsgeflüchtete in Berlin sind, erlebt die neue ukrainische Gemeinde unter dem Dach der Evangelischen Kirche am Grazer Platz einen enormen Zulauf. Allein zum orthodoxen Osterfest Ende April füllten die ukrainischen Gläubigen mit ihren Opfergaben die gesamte Rasenfläche rund um die Kirche, ein einmaliges Erlebnis.

[Konkrete Bezirksnachrichten, viele Tipps und Termine: Immer in unseren Newslettern vom Tagesspiegel für jeden Berliner Bezirk - jetzt einmal pro Woche und kostenlos: leute.tagesspiegel.de]

Das orthodoxe Osterfest Ende April war für die ukrainischen Gläubigen, die am Grazer Platz zahlreich erschienen sind, ein großes Erlebnis.

© Nadiia Kulisch

Heute zeigt Pfarrer Oleh Polianko, wie er seine Kirche künftig noch praktischer in das deutsche Gotteshaus integrieren will. „Wir haben Geld für eine neue Ikonostase gesammelt, die wir schneller auf- und abbauen können“, sagt er zufrieden. Dafür setzten der Geistliche und seine Gemeindemitglieder klappbare Metallrahmen zusammen. Nun werden darauf die auf Stoff projizierten Heiligenbilder gezogen. Eine mobile Ikonenwand also, die in den Lagerraum kommt, wenn der orthodoxe Gottesdienst beendet ist.

Inzwischen fühlen sich auch die ukrainischen Geflüchteten hier wohl, obgleich einiges anfangs natürlich ungewohnt war, die Monitore etwa, von denen man die Liturgie ablesen kann, oder die bequemen Kirchenbänke, die sie von zu Hause nicht kannten. „Jetzt müssen wir nicht mehr stundenlang stehen“, sagt eine ältere Frau und lächelt.

Später während der Gottesdienste fließen viele Tränen – vor Glück, aber auch viele vor Traurigkeit. Zwei Kinder, beide etwa sechs Monate alt, tauft Pfarrer Oleh Polianko an diesem Sonntag. Der russische Angriff hat unzählige Taufen verhindert, die in der Ukraine möglichst im ersten Lebensmonat stattfinden sollen. Die Menschen saßen in den Kellern und U-Bahn-Stationen – oder im Zug nach Deutschland.

In der Kirche in Schöneberg werden auch Taufen gefeiert, die durch den Krieg in der Ukraine verhindert wurden.

© Nadiia Kulish

Jetzt ist die Zeit gekommen, das Leben in der Fremde langsam in geordnete Bahnen zu lenken. Doch viele Geflüchtete sind auch verzweifelt, weil sie ihre im Krieg umgekommenen Angehörigen nicht beerdigen konnten. In Berlin beten sie dafür, dass Mutter, Vater, die Großeltern und andere Verwandte oder Freunde in der Heimat doch noch würdig begraben und verabschiedet werden. Mehr können sie im Moment nicht tun.

[Lesen Sie auch den Tagesspiegel-Plus-Artikel: Der Schuldkomplex der Überlebenden: Wie soll man den Frieden genießen, wenn in der Heimat Bomben fallen?]

Die Spaltung der Kirche sei schmerzhaft, aber notwendig

In der Ukraine geht unterdessen der Kirchenkampf weiter: Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats hat den Krieg verurteilt und auf einem Konzil am 27. Mai 2022 ihre „völlige Selbstbestimmung und Unabhängigkeit“ proklamiert. Anschließen will sie sich der unabhängigen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die 2018 offiziell gegründet wurde. Diesen Weg sind seit Beginn der russischen Invasion bereits rund 400 Gemeinden gegangen. Auch die ukrainische Gemeinde in Berlin fühlt sich der unabhängigen Mutterkirche in Kiew zugehörig. Die Spaltung sei schmerzhaft, aber notwendig, sagt Pfarrer Oleh Polianko. Das Moskauer Patriarchat lasse das Volk im Dunklen über den wahren Charakter des russischen Angriffs auf die Ukraine. „Im Krieg geht es nicht nur um die Verteidigung des Territoriums, sondern auch um den Kampf um die Wahrheit.“ Insofern sei der 2018 offiziell vollzogene Schritt in die Eigenständigkeit heute umso gerechtfertigter. „Die Ukraine ist eine unabhängige Nation, die ihren eigenen Weg der wirtschaftlichen, politischen und kirchlichen Entwicklung wählen wird“, betont der Pfarrer.

[Lesen Sie zu diesem Thema auch den Tagesspiegel-Plus-Artikel: Religion in der Ukraine: Das Land der Kirchen]

Die Schöneberger Kirche des Heiligen Apostel Paulus jedenfalls hat sich in kürzester Zeit zu einem Zentrum der spirituellen und auch der humanitären Hilfe für die Flüchtlinge entwickelt, die nach der Flucht vor allem Halt suchen. Es gibt dort eine Sonntagsschule für die Gläubigen, wo patriotische Lieder gesungen werden, vom Leiden im Krieg, dem Glauben an den Sieg und an ein Wiedererblühen der freien Ukraine. Natürlich auf Ukrainisch, aber die Türen der Kirche stehen allen offen. „Wir helfen den Menschen in erster Linie, die innere Ruhe und Hoffnung zu finden, die sie bitter nötig haben, aber wir helfen ihnen auch mit Unterkunft, Haushaltsgegenständen und anderen Dingen“, erzählt Polianko.

„Die Ukrainer sehen sich nicht als Einwanderer“

Nach den Gottesdiensten bleiben die Menschen noch lange beisammen. Eine:r nach dem anderen kommt auf den Geistlichen zu und erzählt ihm, wie sie oder er dem Krieg in der Ukraine entkommen ist. Viele haben Schreckliches erlebt und wollen ihre Sorgen mit ihm teilen.

Der Weg der allermeisten Ukrainerinnen und Ukrainer, die als Flüchtlinge nach Berlin gekommen sind, werde zurück in die Heimat führen, da ist sich der Geistliche sicher. „Die Ukrainer sehen sich nicht als Einwanderer, die ihr Land für immer verlassen haben.“

Die Trennung der Familien – die Frauen und Kinder am Fluchtort, die Männer und häufig auch die Alten in der Ukraine – sei eine „große Prüfung“. Mit Gottes Hilfe werde man auch diese schlimme Zeit, wie andere historische Krisen zuvor, überstehen. „Die Ukraine hat schon alles erlebt – und überlebt. Wir sind ein freundliches und fleißiges Volk. Jetzt schenkt die Ukraine ihre Früchte der ganzen Welt“, sagt Pfarrer Oleh Polianko. Die Menschen, die sich vor der Kirche um ihn versammelt haben, nicken zustimmend.

Nadiia Kulish

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false