zum Hauptinhalt
Porträts zum Thema Erdbebenangehörige in Berlin für das Berlin-Buch. Zweite Protagonistin: Bilge Bozkurt. Freitag 24.02.23

© Alena Schmick für den Tagesspiegel

„Vieles hat für mich seinen Sinn verloren“: Wie Berliner auf das Erdbeben in der Türkei und Syrien blicken

Die Katastrophe beschäftigt auch die türkischen, syrischen und kurdischen Communitys in Berlin. Betroffene erzählen von schlaflosen Nächten, Spendenarbeit und der Trauer aus der Ferne.

Anfang Februar erschüttern zahlreiche heftige Erdbeben die Südosttürkei und den Nordwesten Syriens. Die Zahl der bestätigten Todesopfer ist mittlerweile auf über 50.000 gestiegen. Auch in Berlin trauern Angehörige und Mitglieder der türkischen, syrischen und kurdischen Communitys. Hier berichten sechs von ihnen.

Ayişe Şahin, 61

Ayişe Şahin kann seit den Erdbeben nicht mehr schlafen.

© privat

Als ich von den Erdbeben in meiner Heimatstadt Maraş in den Nachrichten hörte, rief ich sofort meine Eltern und meine Geschwister an. Ihnen ging es gut. Aber bei den Erdbeben sind 16 unserer Verwandten gestorben. Meine Nachbarn in Maraş, die ich sehr gemocht habe, sind unter den Trümmern gestorben. Ihre Leichen wurden erst Tage später geborgen.

Es ist ein großer Schmerz. Ich habe eine Woche lang nur geweint, nicht geschlafen und nichts gegessen. Wir sind psychisch immer noch labil. Wir sind dauernd gestresst, desorientiert und wissen nicht, was wir tun sollen. Um unser Dorf im Stadtteil Elbistan wieder aufzubauen, werden wir viel Zeit brauchen. Die gesamte Stadt ist zerstört, es wird nicht mehr so sein wie früher.

Gerade ist die Situation sehr schlimm. Die Hilfe reicht nicht aus, viele Menschen brauchen noch immer Zelte. Bekannte von mir schlafen in Futterhäuschen, die für das Futter ihrer Tiere vorgesehen sind. Der Staat hilft und die Katastrophenbehörde AFAD schickt Hilfen, aber unsere Orte sind nicht so leicht zu erreichen.

Die Erdbeben sind auch noch nicht vorbei, in Maraş gibt es immer noch Nachbeben. Viele Menschen aus Maraş sind bereits in andere Städte gezogen, unser Dorf ist menschenleer. Wir telefonieren mit vielen Leuten drüben.

Ich war zuletzt in Maraş für die Beerdigung meiner Tante, die in Berlin gestorben ist und in die Heimat überführt wurde. Das war zwei Wochen vor den Erdbeben. Ich bin eine Woche dort geblieben, bevor ich wieder nach Berlin zurückflog. Damals war das Wetter sehr schön, es wurde plötzlich so kalt, kurz vor den Beben.

Sobald die Wetterverhältnisse sich bessern, will ich hinfahren und den Überlebenden eine moralische Stütze sein. Während wir hier im Warmen sitzen, sind unsere Gedanken bei den Menschen dort. Wenn wir uns ins Bett legen und im Alltag – wir denken die ganze Zeit an sie.

Mert Özkaraman, 28

Mert Özkaraman sammelt Spenden und koordiniert Hilfen.

© Alena Schmick für den Tagesspiegel

Ich selbst komme nicht aus der Erdbebenregion. Aber ich war sehr schockiert, Zeuge einer solchen Umweltkatastrophe zu werden. Ich war am Anfang ein wenig erstarrt, aber gleich am ersten Tag nach den Erdbeben bin ich zum kurdischen Verein gegangen, wo wir uns mit den Freundinnen und Freunden zusammengesetzt und gemeinsam überlegt haben, was wir in der Diaspora machen können, um den Menschen vor Ort zu helfen.

Wir wussten, dass wir uns schnell organisieren und koordinieren müssen, da vor allem die Sachspenden vor logistischen Herausforderung stehen werden. Wir hatten die Befürchtung, dass die kurdischen Gebiete stiefmütterlich behandelt werden. Also sammelten wir viele Geldspenden für Gebiete, in denen Hilfen vielleicht noch nicht in dem Maße angekommen sind, wie sie hätten ankommen müssen.

Wir wurden sofort aktiv. Wir führten Koordinierungsgespräche mit der Polizei, rekrutierten Helfer über soziale Medien und erstellten Zeitpläne, da wir uns jeden Tag schichtweise abwechseln. Bei unserer Arbeit an den Ständen klären wir die Leute auf der Straße auf. Es ist egal, ob sie nun an uns spenden oder an andere Organisationen und Communitys, sie sollen nur verstehen, dass die Leute in den Regionen auf jeden Euro angewiesen sind.

Politisch hat sich das Lagerdenken verschärft. Die Wut auf die Regierung ist sehr groß. Das Bild eines Schuldigen auf der einen und unschuldige Menschen, die dafür sterben mussten, auf der anderen, wird in der Türkei sehr klar gezeichnet. Die Menschen wissen, dass nicht so viele Menschen hätten sterben müssen, wenn die Gebäude sicherer gebaut worden wären. Die marode Infrastruktur im Südosten der Türkei war aber schon immer ein großes Problem. 

Bilge Bozkurt, 29

Bilge Bozkurt versucht für ihre Familie in der Türkei da zu sein.

© Alena Schmick für den Tagesspiegel

Den ersten Tag des Bebens versuche ich bis heute zu verarbeiten. Ich war schon in der Nacht sehr unruhig und konnte nicht schlafen. Ich war früh wach und griff morgens zum Handy. In den sozialen Medien sah ich dann, dass es ein Erdbeben in der Region gab, von der wir kommen.

Ich dachte mir nicht so viel dabei, da ich Erdbeben auch aus meiner Kindheit kenne, als ich bei meinen Großeltern in unserer Stadt Antep war. Trotzdem rief ich meinen Onkel an, der mir erzählte, dass sie im Auto sind und nicht nach Hause können. Erst als ich die Bilder der zerstörten historischen Burg in Antep auf Twitter sah, realisierte ich das Ausmaß.

Meine Familie hat überlebt, aber sie ist stark traumatisiert. Meine Oma erzählte mir am Telefon, dass sie ständig ein Beben spürt, auch wenn es keine gibt. Sie schaut alle paar Sekunden zum Kronleuchter, um zu erkennen, ob es wirklich bebt. Mein kleiner Cousin erzählte mir von seinen Alpträumen.

Ich selbst war die Wochen nach den Beben ständig auf Twitter und den Nachrichten unterwegs. Es war wie eine Sucht. Ich verlor mein Zeitgefühl, ich war eingesogen von den Ereignissen. Meine Gefühlslage bewegte sich zwischen wütend und traurig, ein ständiges Hoch und Tief. Ich habe keine Lust, Freunde zu treffen, auszugehen.

Um ihren Schmerz zu verarbeiten, hält Bilge Bozkurt die hoffnungsvollen Momente der letzten Tage künstlerisch fest und zitiert den Dichter Rumi: „Wo es Ruinen gibt, gibt es Hoffnung auf einen Schatz“.

© Bilge Bozkurt

Ich versuche gerade, für meine Familie in der Türkei da zu sein über Telefongespräche oder um Informationen für sie rauszusuchen. Ich informierte sie zum Beispiel nach dem letzten großen Beben vor ein paar Tagen über eine Tsunami-Warnung. Mir raubt das die Kraft, sodass andere Dinge aus dem Fokus rücken. Ich habe Konzentrationsprobleme und kann mich nicht auf meine Arbeit einlassen. Viele Dinge haben für mich ihren Sinn verloren. 

Die Probleme nach den Erdbeben werden lange andauern. Die Katastrophe ist nicht vorbei. Die Folgen sind nicht nur materiell, sondern psychisch. Wir brauchen Support, sowohl die Betroffenen vor Ort als auch wir Angehörigen. Ich wünsche mir, dass wir nicht vergessen und alleingelassen werden.

Ferhad Bilal, 24

Ferhad Bilal hat Angst, dass seine vom Krieg gezeichnete Stadt wieder vergessen wird.

© privat

Ich komme aus Afrin, einer kurdischen Stadt in Nordsyrien. Nach all den Jahren Krieg dort ist nun auch noch eine Erdbebenkatastrophe in meiner Stadt passiert. Ich mache mir den ganzen Tag Sorgen um meine Familie und bin täglich in Kontakt mit ihnen. Meine Eltern und ich sind in Deutschland, aber der Rest der Familie ist in Afrin. Meine Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Direkt nach den Erdbeben war der Strom aus, es war also sehr schwer, mit ihnen in Kontakt zu treten.

Die Menschen aus meiner Heimatstadt waren nach den Erdbeben auf sich allein gestellt. In den ersten drei bis vier Tagen sind keine Helfer gekommen. Die Grenzen waren geschlossen. Auch meine Familie wurde im Stich gelassen. Es gab die ersten Tage keine Maschinen für Rettungsarbeiten, keine Medizin. Die meisten Familien in meiner Stadt schlafen auf der Straße, in Autos oder Zelten. Die Hilfsgüter für Afrin wurden geklaut und den Hilfsbedürftigen vor Ort verkauft.

Ich habe Angst, dass meine Heimat Afrin nach dem Erdbeben wieder vergessen wird. Meine Familie und alle Menschen in Afrin erleben seit 2018 jeden Tag Mord, Folter und Krieg. Die bewaffneten Gruppen dort fühlen sich frei, alles machen zu können, was sie wollen. Es geht leider schon seit vier Jahren so. Ich hoffe, dass die Situation in Afrin auch in den Medien öfter erscheint.  

Fatima Karmid, 24

Fatima Karmid war gerade in der Klausurenphase, als die Erdbeben passierten.

© privat

Als das Erdbeben passierte, stand ich kurz vor meiner Statistikklausur. Ich fühlte mich ohnmächtig und ich wusste, dass ich mir meine Trauer gerade nicht leisten kann, weil ich mich auf meine Klausur konzentrieren musste. Es waren schreckliche drei Tage bis zu meiner Klausur, in denen ich in die Bibliothek gegangen bin und von morgens bis abends durchgelernt habe. Ich habe mir kein einziges Video von den Erdbebengebieten angeschaut und habe mich gezwungen, keine Nachrichten zu konsumieren. Ich wusste nur, dass es meiner Familie in Hatay gut geht.

Während des Lernens hatte ich Schuldgefühle, weil ich mich nicht damit beschäftigt habe. Ich habe mir vorgeworfen, egoistisch zu sein. Erst nach der Klausur habe ich mich nach meiner Familie erkundigt. Meine Tante und ihre Familie sind vor einigen Jahren aus Syrien in die Türkei geflüchtet. Auf meine Arbeit konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich hatte lange Arbeitstage, während ich die Erdbeben noch zu verarbeiten versuchte.

Am Montagabend gab es wieder ein starkes Erdbeben in Hatay. Ich habe versucht, meine Tante zu erreichen, und konnte sie dann über WhatsApp erreichen. Es kamen nur kurz angebundene Nachrichten zurück: Alles gut, macht euch keine Sorgen. Wir haben es gerade noch so geschafft. Aber wir sind mental zerstört. Wann hört das alles endlich auf?

Nach dieser Nachricht habe ich viel geweint und konnte nicht einschlafen. Ich habe mir dann zwei Tage freigenommen, das ist auch auf viel Verständnis gestoßen. Aber es war eine Überwindung, mir freizunehmen und zu sagen: Ich will und kann nicht arbeiten. Stattdessen habe ich einen Kuchen gebacken und bin damit in die Universität gegangen, um bei einem Kuchenverkauf zu helfen, der von muslimischen Studierenden organisiert wurde, um Spenden für die Erdbebenopfer zu sammeln.

Emre Çoğlan, 26

Emre Çoğlan ist nach den Erdbeben in die Region gereist, um vor Ort zu helfen.

© privat

Ich wohne in Berlin, aber war zum Zeitpunkt der Erdbeben in Istanbul. Ich habe Freunde in der betroffenen Region. Ich versuchte, die Leute vor Ort telefonisch zu erreichen. Einige meldeten sich zurück, von anderen hörte ich nichts mehr. Der Montag, an dem die Erdbeben geschahen, war der letzte Tag, an dem ich vernünftig schlafen konnte.

Ich ließ meine Arbeit stehen und liegen und fuhr in die Städte Hatay und Adıyaman. Parallel koordinierte ich mit Bekannten Minenarbeiter aus anderen Städten der Türkei und ihre Anreise in die betroffenen Regionen für Rettungsaktionen. Um bergen zu können, brauchten sie aber eine Genehmigung. Es dauerte drei Tage, bis diese kam.

Gerade bin ich in einem Dorf in Iskenderun, einem Stadtteil in Hatay. Das letzte große Erdbeben in Hatay habe ich auch erlebt. Freunde und ich saßen vor einem Dönerladen und aßen etwas, als das Beben losging. Leute, die die ersten Beben erlebt hatten, gerieten sofort in Panik. Die Menschen sind traumatisiert.

Außerdem gibt es hier sehr viel Rassismus gegenüber Geflüchteten. Hatay ist vor allem eine arabisch geprägte Stadt, und doch haben selbst die Ansässigen hier eine von Grund auf herrschende Antipathie gegenüber syrischen Geflüchteten. Trotzdem erleben wir auch oft Positives; viele Menschen sagen dann, dass sie keine Spenden mehr brauchen, weil sie genügend haben und verweisen auf andere Menschen, die es nötiger hätten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false