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© getty images, Monateg: Manuel Kostrzynski/TSP

„Am Ende habe ich sie alle rausgeworfen“: Putins Krieg hat meine Familie gespalten

Tote Zivilisten, Massengräber, Massaker – alles nur eine Glaubensfrage? Eine russischstämmige Frau schildert, wie der Ukraine-Krieg ihre Verwandtschaft entzweit.

Von Ilona B.

Die Autokorsos, mit denen einige sogenannte Russlanddeutsche in den vergangenen Wochen ihre Unterstützung für Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine bekundeten, empören die deutsche Öffentlichkeit. Schließlich haben diese Zugang zu unabhängiger Berichterstattung, kennen die Schreckensbilder aus den Dörfern und Städten, sind nur indirekt der russischen Propaganda ausgesetzt.

Doch auch unter den rund 2,5 Millionen Menschen in Deutschland, die oftmals als sogenannte Spätaussiedler ins Land kamen, führt der Krieg zu teils heftigen Verwerfungen. Er führt zu hitzigen Debatten, entfacht Streit, spaltet mitunter Familien. Einer dieser Fälle betrifft Ilona B. Um die Persönlichkeitsrechte ihrer Verwandten zu schützen, verzichten wir auf die Nennung ihres vollen Nachnamens. Hier berichtet die junge Frau, die als Fünfjährige mit ihren Eltern in die Bundesrepublik kam, wie Putins Krieg radikal verändert hat, was ihr bislang am wichtigsten war im Leben.


Ilona B., 31, lebt in Süddeutschland:

„Als vor sieben Wochen der Krieg ausbrach, habe ich meiner Mutter die ganzen schrecklichen Nachrichten auf WhatsApp geschickt. Die Bilder von Panzern, von zerstörten Häusern, von den vielen Toten. Was meine Mutter mir darauf antwortete, fasst das Problem ganz gut zusammen: „Hauptsache, es gibt keinen Krieg.“

In meiner Familie bin ich die Einzige, die Putins Invasion offen kritisiert. Meiner Mutter bin ich peinlich, sagt sie. Meine Tante fragt: „Was heißt schon Angriffskrieg, wenn Russland doch provoziert wurde?“ Meine Cousine behauptet, ich hätte keine Ahnung. Der ukrainische Präsident Selenskyj sei selbst schuld. Würde er nicht so an seinem Amt hängen, wäre das Problem längst gelöst. 

Mit fliegenden Fahnen. Ein Autokorso unter dem Motto „Gegen die Diskriminierung russischsprachiger Menschen“. mit.

© Christoph Schmidt/dpa

Der Krieg hat einen tiefen Keil in unsere Familie getrieben. Eigentlich sind wir sehr eng miteinander, meine Familie bedeutet mir alles. Wir sind sogenannte Russlanddeutsche, kamen 1996 als Spätaussiedler in die Bundesrepublik, da war ich fünf Jahre alt. Meine Mutter, mein Vater, meine Tante und ihr Anhang. Meine Oma war schon ein Jahr früher hier. Jetzt habe ich zu allen den Kontakt abgebrochen. Beziehungsweise umgekehrt.

Als der Krieg begann, hatte ich noch Hoffnung, dass ich zumindest meiner Mutter die Augen öffnen könnte. Und sie war auch entsetzt, als sie die ersten Bilder festgenommener russischer Soldaten sah und erkannte, wie jung sie waren. Die sollte man nicht in den Kampf schicken, fand sie.

Fadenscheinige Gründe, um Ukrainer zu hassen

Am 28. Februar, dem vierten Kriegstag, kam leider das wahre Gesicht meiner Mutter zum Vorschein. Da schrieb sie mir auf WhatsApp: „Ilona, die verkaufen doch Kinder. Die haben dort Fabriken, wo sie Babys für 70 000 Euro verkaufen. Schwule und Lesben aus Deutschland kaufen dort Kinder. Wie kannst du sowas gutheißen? Misch dich nicht in Politik ein, bitte!“

Homophobie ist auch so ein Problem, da könnte ich stundenlang drüber sprechen. Jedenfalls antwortete ich, was das denn bitte für eine peinliche Ausrede sei. Anstatt jetzt zu sagen: „Wir haben uns in der russischen Regierung geirrt“, suchen wir fadenscheinige Gründe, um Ukrainer zu hassen?

Meine Mutter schrieb zurück: „Ich schäme mich nicht dafür.“ Das ist ein russischer Propagandaspruch. Das „Z“, das auf vielen russischen Panzern und anderen Kriegsfahrzeugen aufgemalt ist, ist ja weltweit als Symbol für die Invasion verrufen. Patriotische Russen feiern es jedoch. Es gibt T-Shirts, auf denen das „Z“ aufgedruckt ist und darunter der Slogan: „Ich schäme mich nicht dafür.“ Genau darauf hat meine Mutter angespielt.

In meinem analogen Leben kenne ich leider keine Gleichgesinnten mit russischen Wurzeln. Nur im Internet, also auf Twitter und Instagram. Aber wenn ich dort gegen Putin poste, bekomme ich auch viel Hass ab. Auch haben mich haben plötzlich andere Russlanddeutsche angeschrieben, zu denen ich das letzte Mal vor zehn Jahren Kontakt hatte. Als ob denen jemand gesagt hätte: Ilona flippt gerade wegen der Ukraine aus. Einer fragte mich: „Findest du nicht, dass du ein bisschen parteiisch bist? Gerade du müsstest Russland doch verstehen und wissen, dass die westlichen Medien Dinge falsch darstellen.“

Dass ich Spenden sammele, macht meine Mutter wütend

In meiner Familie wurde früher wenig über Politik gesprochen. Als ich etwa 14 Jahre alt war, durfte ich zum ersten Mal ins Internet, da habe ich Artikel über den zweiten Tschetschenienkrieg gelesen. Auf Familienfeiern sprach ich an, wie furchtbar ich das finde. Da wurde immer nur gelächelt, wie wenn ein kleines Kind etwas dazwischen plappert. Und es hieß: „Du verstehst das alles nicht, du kannst ja gar nicht richtig Russisch. Dieses Argument muss ich mir heute noch anhören.

Die Propaganda, der die Russen ausgesetzt sind, ist wirklich extrem.

Ilona B.

Eine Woche nach Kriegsbeginn, es war der Abend des 2. März, hat meine Mutter mehrfach versucht, mich anzurufen. Ich war gerade beschäftigt, weil ich in der Kirche beim Sortieren von Spenden für die Ukraine half. Ich schickte ihr ein Foto mit Helfern drauf und vielen Kartons, da waren zum Beispiel Babycremes und Desinfektionsmittel drin, und schrieb dazu, dass ich keine Zeit hätte zum Telefonieren.

Das hat meine Mutter richtig getriggert. Sie schrieb mir: „Aha, Ukrainer bemitleidest du, aber die Mutter, die kann anrufen ...“ Das hat sie nicht ironisch gemeint. Sie war stinksauer. Am nächsten Tag meinte sie noch: Wenn ich etwas Gutes tun wolle, müsse ich es nicht gleich in der Welt herumschreien.

„Ich schäme mich nicht.“ Ein Mann während einer prorussischen Demonstration in Frankfurt am Main.

© dpa/Boris Roessler

Ein Punkt, der in unseren Diskussionen immer wieder aufkommt, sind die verbrannten Menschen aus Odessa. Dieses Ereignis gab es wirklich, im Mai 2014. Damals kam es zu einer Ausschreitung zwischen Ukrainern und prorussischen Separatisten. Es endete damit, dass sich die Russlandanhänger in einem Gewerkschaftshaus verschanzten, die Kontrahenten draußen Brandsätze ins Gebäude warfen und letztendlich 40 Menschen verbrannten. Im russischen Staatsfernsehen wurde dieses Ereignis jahrelang als Propagandamittel genutzt, um Hass gegenüber Ukrainern zu schüren.

Die Propaganda, denen die Russen ausgesetzt sind, ist wirklich extrem. Ich schaue mir im Internet Ausschnitte von Sendungen aus dem russischen Fernsehen an, das sind Talkshows wie bei uns Maybrit Illner oder Markus Lanz, nur dass sie dort die Menschen offen dazu aufrufen, an die Front zu gehen. So nach dem Motto: „Wie wollt Ihr euren Müttern noch in die Augen schauen, wenn ihr jetzt nicht für das Vaterland kämpft?” Und sie diskutieren darüber, wie man die Ukraine oder neuerdings auch Litauen am besten aufteilt.

Patrioten, die ihre Regierung blind unterstützen

Ich kann mir vorstellen, dass in Russland viele Angst haben, ihre Meinung zu sagen oder auch nur in einer Mail zu schreiben. Dass sie Angst haben, abgehört zu werden. Aber es gibt auch sehr viele, die jede Propaganda glauben und die Regierung blind unterstützen. Es existiert sogar ein Name für diese Menschen: Vatniki. Das sind tumbe russische Patrioten. Quasi das russische Gegenstück zum US-amerikanischen Redneck.

Mit meiner Cousine habe ich mich über die Nato-Osterweiterung gestritten. Ich schickte ihr den Text des Minsker Abkommens, in dem eben nirgends steht, dass die Nato keine russischen Anrainerstaaten aufnehmen darf. Meine Cousine sagte: „Ganz ehrlich, du hast halt eine westliche Meinung.“ Wenn es hart auf hart komme, glaube sie eher Russland. „Überleg’ doch mal, welche amerikanischen Schweinereien Edward Snowden aufgedeckt hat“, sagt sie. Das ist ein Argument.

Glaubensfrage? Getöteten Zivilisten in Butscha, einem Vorort von Kiew, in dem russische Truppen ein Massaker zu verschulden haben.

© dpa/ Valeria Ferraro

Meine Mutter fragt sich, warum ich so verkorkst bin. Warum ich nicht „normal“ sei, wie alle anderen. Nämlich „unpolitisch“. Sich selbst hält sie für neutral, und alle, die für Ukraine Partei ergreifen, seien „gegen Russland“.

Ihre Loyalität zu Russland verstört mich umso mehr, wenn man unsere Familiengeschichte bedenkt. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater haben deutsche Wurzeln, unsere Vorfahren waren Bauern aus Baden-Württemberg, die im 18. Jahrhundert nach Georgien beziehungsweise in die Wolga-Region ausgewandert sind. Das ging auf ein Gesetz von Katharina der Großen zurück. Sie lebten dort in kleinen Dörfern, die Alexanderhilf oder Rosenberg hießen und in denen es praktisch nur Deutsche gab. Das war eine Parallelgesellschaft im Zarenreich.

Meine Mutter hat sich mehr erhofft von ihrem Leben in Deutschland, das trägt sicher zu ihrer Haltung bei.

Ilona B.

Nach der Oktoberrevolution 1917 haben Bolschewiken die Bauern enteignet, die Familie meiner Oma verlor ihre Schafe und einen Weinberg. 1944 ließ Stalin sie dann in den Norden des heutigen Kasachstan deportieren, mehrere Vorfahren von mir mussten in Arbeitslager, meine Oma erlebte als Kind Armut und Hunger. Meine Vorfahren wurden also als Teil der deutschen Minderheit nicht gut behandelt. Meine Mutter wurde in ihrer Jugend für ihre deutschen Wurzeln angegriffen, wurde Faschistin genannt. Das alles spricht eher gegen eine prorussische Einstellung.

Auf der anderen Seite wurde meine Mutter in Deutschland ebenfalls nicht gut behandelt. Wir lebten ab 1996 erst mal mehrere Jahre in einem Asylantenheim in einem Dorf in Süddeutschland, haben da auch Rassismus erfahren. Meine Mutter kann davon viele Geschichten erzählen. Als sie in einer Bäckerei putzte, gab es da eine alte Frau, die immer in ihrer Nähe gefurzt hat. Meine Mutter glaubt bis heute, dass sie das absichtlich gemacht habe.

Später hat sie als ungelernte Produktionshelferin gearbeitet und ist dann in die Altenpflege gewechselt. Heute ist sie über 50, und ich denke: Sie fühlt sich immer noch als Außenseiterin. Sie hat sich mehr erhofft von ihrem Leben in Deutschland und sieht kaum eine Perspektive. Das alles trägt sicher zu ihrer Haltung bei.

Meine Mutter sagt: „Bitte bewahre die Ruhe“

Ich selbst leide sehr unter dem Streit mit meiner Familie. Aber ich will auch nicht schweigen über die Massaker und Verbrechen, die Russland in der Ukraine verübt. „Bitte bewahre die Ruhe“, hat meine Mutter mir einmal gesagt. „Der Krieg hat angefangen, und der Krieg hört auch wieder auf. Aber die Familie bleibt für immer.“ Ich glaube, so will sie auch ihr eigenes Ignorieren der Realität rechtfertigen.

Am 11. März hatte ich Geburtstag. Keiner meiner Verwandten rief an, es war, als wäre ich gestorben. Nur meine Mutter saß abends, als ich nach Hause kam, plötzlich in meiner Wohnung. Bei diesem Treffen hat sie mir ihr Telegram gezeigt. Leider ist meine Mutter in dem Messenger-Dienst in eine Gruppe geraten, in der deutsche Verschwörungsgläubige und Impfgegner ihren Unsinn verbreiten. Dort herrscht auch eine sehr freundliche Stimmung gegenüber Putin, werden pro-russische Verschwörungsmärchen erzählt.

Sie nimmt Querdenker als Beweis dafür, dass auch Deutsche so denken wie sie.

Ilona B.

Und ausgerechnet diese Gruppe sieht meine Mutter nun als Beweis dafür, dass auch Deutsche so denken wie sie. Sie sagt: Guck mal, Ilona, selbst Deutsche sind von Russlands Unschuld überzeugt und misstrauen den westlichen Medien. Als ob diese Hetzer repräsentativ wären für die deutsche Öffentlichkeit.

Zum bislang letzten Mal habe ich meine Mutter und meine Tante vor bald drei Wochen gesehen. Ich habe in meiner Wohnung für sie gekocht, wir haben gegessen, im Fernsehen lief der Nachrichtensender Euronews, vor allem mit Themen zur Ukraine. Es dauerte nicht lange, bis wir uns stritten. Die beiden taten so, als seien alle Ukrainer schon immer Nazis gewesen, und ich sei einfach zu jung und unbedarft, um das zu wissen. „Glaub mir Ilona, das ist nicht das nette Volk, das du dir einbildest“, sagte meine Tante. Irgendwann fragte sie: „Ja, hätte man Deutschland etwa auch nicht befreien sollen damals?“ Am Ende habe ich die beiden rausgeworfen.

Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Mit meiner Familie und mir, und mit Russland. Am 19. April hat meine Cousine Geburtstag. Wir waren, vor diesem Krieg, wie Schwestern. Ich werde ihr wohl gratulieren. Ich weiß aber nicht, ob sie antworten wird.

Protokoll: Sebastian Leber

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