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© Getty Images/iStockphoto

„Das ist vorsätzlich falsch“: Unterwegs mit einem, der wegen der Klimapolitik um seinen Job fürchtet

Tempolimit, autofreie Innenstädte. Wer nicht mehr einkaufen können will, kann das fordern, sagt Peter Nass. Der Handelsvertreter will Klimaschutz. Aber anders.

Wenn er den Startknopf drückt, senkt sich das Lenkrad sanft herab, fährt vor ihm ein Display hoch, saugt sich das Auto förmlich an ihn heran, als wolle es einen Kokon um ihn herum bilden, ihn abschirmen von der Außenwelt. Die wird zu etwas, was jenseits der Frontscheibe stattfindet, was beobachtet und zur Kenntnis genommen wird, abgeklärt misstrauisch. Hier drin ist Sicherheit und Ruhe – und klar, wer den Weg vorgibt.

Das Abblendlicht ist automatisch angegangen, weil es dunkel draußen ist. Und dunkel ist es, weil die Uhr eine Zeit vor sechs Uhr am Morgen anzeigt.

Alles Absicht, um Autofahrer zu nerven

Die frühe Stadt hält ihn mit roten Ampeln auf. An leeren Kreuzungen. Halten, warten, anfahren. Halten, warten, anfahren, immer wieder. Alles Absicht, denkt er. Um Autofahrer zu nerven. Leute wie ihn. Ihn.

Langstrecke. Peter Nass mit seiner 435-PS-Maschine, mit der er auf einer langen Tour mitunter rund 180 Kilogramm Kohlendioxid ausstößt.
Langstrecke. Peter Nass mit seiner 435-PS-Maschine, mit der er auf einer langen Tour mitunter rund 180 Kilogramm Kohlendioxid ausstößt.

© Ariane Bemmer

Erleichterung, als er endlich die Stadtautobahn erreicht. Sein Fuß übt leichten Druck aus aufs Gaspedal, die 435-PS-Maschine reagiert umgehend und willig. Es ist immer wieder eine Freude.

Peter Nass hat einiges vor an diesem Freitag. Er will rauf an die Küste, nach Kühlungsborn, dann Neubukow, Schwerin und Putlitz. Wenn er zwölf Stunden später wieder in seine Straße in Berlin-Lichtenberg einbiegen wird, hat er gut 620 Kilometer mehr auf dem Tacho und wird wie oft nach langen Touren schlecht schlafen.

Wortbeiträge im Radio hat er sich abgewöhnt

60 Liter Diesel werden dann verbrannt worden sein. Und ungefähr 180 Kilogramm Kohlendioxid mehr als vorher befinden sich dann in der Luft, so jedenfalls rechnet das Umweltbundesamt.

Es dämmert langsam und fängt an zu nieseln. Die Wischerblätter gehen in den Intervallmodus. Aus den Boxen dudeln leise Oldies. Nass hat einen DAB-Sender eingestellt. Kaum Wortbeiträge. Hat er sich abgewöhnt. Das ganze Gerede, die ganzen Lügen, die alle wiederholen, ohne nachzudenken.

Nass ist selbstständiger Handelsvertreter, ein fahrender Verkäufer. Einer, der Leuten Sachen andrehen kann, von deren Existenz sie 15 Minuten zuvor nichts wussten. Seine Formulierung.

Unsichtbares System, das die Wirtschaft am laufen hält

Ungefähr 35.000 wie ihn gibt es in Deutschland, bei rund 60.000 Handelsvertretungen insgesamt, die alle zusammen mehr als 200.000 Menschen beschäftigen. Sie bilden ein unsichtbares System, das dafür sorgt, dass gewerbliche Abnehmer und Hersteller möglichst reibungslos zueinanderfinden, dass die vielen Läden, Betriebe, Firmen die benötigte Ware bekommen, dass Material, Werkstoff vorhanden ist, dass die Wirtschaft am Laufen bleibt, immer weiter, immer weiter.

Sie fahren Kombis in gedeckten Farben und erkennen einander auf den Autobahnen. Ihre Autos sind immer relativ neu und sauber, weil verdreckte Autos einen schlechten Eindruck machen. Die mit den Kennzeichen aus der Gegend, wo man gerade ist, sind die Gebietsvertreter, die anderen die Firmenvertreter.

Ihre Interessenvertretung CDH hat für Handelsvertreter einen „Einschaltungsgrad von rund 30 Prozent in inländische Warenströme“ errechnet, für den Einzelhandel geht Nass, der im Bereich Nordost ehrenamtlich auch selbst CDH-Vorsitzender ist, von bis zu 80 Prozent aus. Fast überall, wo Kundschaft in Regale greifen und etwas kaufen kann, haben er und seinesgleichen mitgewirkt.

Die Wertschätzung dafür aus der Politik lässt dennoch auf sich warten. Ihr Wunsch, als Wirtschaftsverkehr eingestuft zu werden, was ein paar praktische Vorteile wie Parkerlaubnis in Fußgängerzonen hätte, wird seit Jahren ignoriert. Stattdessen wird jetzt – und nach der Bundestagswahl erst recht – überall nachhaltige Verkehrs- und Klimapolitik propagiert, die die Handelsvertreter mehrfach trifft. Und ganz direkt.

Tempolimits versauen ihnen den Stundenlohn. Parkverbote zwingen sie, ihre Waren, Kataloge, Muster zu Fuß zu den Kunden zu tragen. Elektroautos sind wegen vergleichsweise geringer Reichweiten, langer Ladezeiten, fehlender Stromtankstellen keine Alternative. Autofreie Innenstädte machen ihre Arbeit ganz unmöglich. Vielleicht wird ihr Beruf die vielen angekündigten Neuerungen gar nicht überstehen. Was wäre dann? Nass ist froh, dass er inzwischen 60 ist und das Ganze für ihn absehbar vorbei.

Navigationshilfe durch die Masse an Waren

Den ersten Termin hat er auf 9 Uhr gelegt. Mit Britta Busch. Cubanzestraße 9c, Kühlungsborn-Ost. Traum & Zeit. Ein Laden für Möbel- und Wohnaccessoires. Nachwendegründung. Anfangs nur Fliesen. Jetzt alles Mögliche und zwar mit Parkplatz, was Nass sehr schätzt.

Aus dem Kofferraum holt er Stofftaschen mit Mustern und betritt den mit Dekoartikeln, Kissen, Decken, Teppichen, Bildern, Rahmen, Kisten, Truhen kunterbunt und warensatt vollgestellten Laden. So wie vor zwei Jahren erstmals. Da ist er ohne Termin rein, hat sich vorgestellt und die Firmen, die er vertritt, die vielleicht Waren haben, die hier hineinpassen. So kamen sie ins Geschäft.

Mustermann. Handelsvertreter wie Peter Nass sind bei Händlern beliebt, schließlich ermöglichen sie es, die Waren vor dem Kauf anzufassen und zu prüfen. Hier bei einem Termin in Kühlungsborn.
Mustermann. Handelsvertreter wie Peter Nass sind bei Händlern beliebt, schließlich ermöglichen sie es, die Waren vor dem Kauf anzufassen und zu prüfen. Hier bei einem Termin in Kühlungsborn.

© Ariane Bemmer

Für Britta Busch sind Vertreter eine Navigationshilfe durch die Deko-Welt, die Massen an Waren, die es gibt. Ein Vorfilter, der ihr das Leben leichter macht. Sie bestellt lieber über Vertreter statt mit einem Account direkt bei den Firmen, was die inzwischen fast alle anbieten. Auch, weil die Vertreter Vertragsfragen, Reklamationen, Zahlungsabläufe für sie regeln. Sie kann bei ihnen vieles abladen, was sie sonst selbst machen müsste.

Außerdem bringen Vertreter Muster mit. Wichtig. Man muss die Waren sehen und anfassen, um zu beurteilen, ob man sie verkaufen kann. Dafür gibt es zwar auch Messen, aber nur ein-, zweimal im Jahr, und zu denen muss man dann ja auch hinfahren.

Artikel, die kein Mensch braucht

Nass hat sechs Vasen auf den Tisch gestellt. Made in Polen. Durchgefärbt die einen, bedampft die anderen. Schlicht die einen, bauchig mit Dekor die anderen. Die schlichten haben Britta Busch im Onlinekatalog gefallen. So jetzt vor ihr auf dem Tisch sind sie ihr zu schlicht. Aber Vasen erst wieder zum Frühjahr, wenn es Blumen gibt.

Sie blättert durch den Katalog von Giftcompany, ein Hamburger Unternehmen, für das Nass die Gebietsvertretung Nordost hat. Eins von fünf, was viel ist. Drei sind üblich. Gebietsvertretung heißt: Wer immer hier in diesem Bereich bei Giftcompany oder den anderen Firmen aus Nass’ Portfolio ordert, sorgt dafür, dass er Provision bekommt. Ob er eingeschaltet war oder nicht.

Der Katalog zeigt auf querformatigen Seiten Artikel, die kein Mensch braucht, wie Nass die Waren zusammenfasst, die er vertreibt. Weihnachtsschmuck in Gurkenform. Ohne hochzuschauen sagt Britta Busch: Die Gurken sind ja auch nie gekommen. Nass schaut fragend. Ich hatte welche bestellt.

Nass klickt im Notebook ein paar Tasten an. Richtig, sagt er, Gurke, klein, matt. Er telefoniert mit dem Backoffice von Giftcompany. Sind am Lager. Kommen. Auch für so etwas schätzt Britta Busch die Vertreter: Sie haben immer gleich die richtigen Leute am Telefon. Würde sie selbst nach ihren Gurken forschen, würde sie durch Warteschleifen laufen und bei jedem Anruf eine andere Person am Hörer haben. Kostet auch nur Zeit und Nerven, die sie nicht hat.

Jetzt liest sie Seriennummern aus dem Katalog vor und Nass notiert in digitale Bestellformulare die Verkaufseinheiten, die sie ordert – im Kopf auch ihren großen Weihnachtsmarkt am ersten Novemberwochenende. Tochter Nora kommt dazu, um die Mutter am Übertreiben zu hindern.

Mehr als zwei Stunden sitzt Nass am Tisch, notiert Bestellungen, löscht manche gleich wieder, rät zu, rät ab und trinkt noch einen Kaffee.

Auschnitthafte Betrachtung regt ihn auf

Dann geht es über Land nach Neubukow, zu einem Concept Store namens Kleinstadtleben. Eine Neugründung. Klara sagt ihm die Strecke an. Klara heißt sein Navi. In Neubukow findet er einen Parkplatz gegenüber vom Laden und freut sich, denn es regnet inzwischen.

Nass kennt die Inhaberin nur vom Telefon, will heute persönlich Hallo sagen, weil er in der Gegend ist. Die Ladentür steht offen, drinnen ist es kalt. Kurz nach dem Hallo sprechen sie über Kerzen, die allmählich Mangelware werden. Wegen Corona und dem eingeschränkten Flugverkehr, weil Paraffin ein Abfallprodukt der Kerosinherstellung sei. Sagt Nass, in dessen Welt auch das Kleinste mit allem zu tun hat, weshalb er seinen Kindern von klein auf beigebracht hat, bei allem, was sie tun, die Konsequenzen zu bedenken.

Ich denke manchmal, dass das Leben in Deutschland überhaupt nur noch für Angestellte und Beamte erträglich ist.

Handelsvertreter Peter Nass

Corona wirkt sich auf das Kerzenangebot in Neubukow aus, der havarierte Frachter im Suezkanal auf den Weihnachtsmarkt von Britta Busch in Kühlungsborn-Ost. Weshalb ihn die ausschnittsweise Betrachtung von Problemen aufregt, wie er sie bei der Politik beobachtet. Weil man nicht aus einer globalen Klimaproblematik den innerstädtischen Dieselverkehr herausgreifen, den abwürgen und dann meinen kann, das sei jetzt die Lösung.

Nass fährt weiter nach Schwerin, zur Villa Vanilla direkt am Marktplatz. Auf dem Marktplatz ist Markt. Obst und Gemüse, Brote, Fisch. Noch mehr Handel und Händler, lauter Menschen, die unternehmerisch tätig sind. Die Risiken eingehen, sich Unwägbarkeiten aussetzen. Und flexibel sein wollen, um darauf reagieren zu können, und die sich von zu vielen Regelungen behindert fühlen, eingeschränkt. Regelungen, die Angestellte und Beamte nicht bemerken. Nass denke manchmal, sagt er, dass das Leben in Deutschland überhaupt nur noch für Angestellte und Beamte erträglich sei.

In der Villa Vanilla ist Betrieb, die Inhaberin verkauft unentwegt Dinge an Schwerin-Besucherinnen. Zum Unterhalten hat sie keine Zeit. Nass reicht ihr schnell eine Edelschokolade. Als Geste. Weil sie einen Schicksalsschlag in der Familie hat, und geht wieder raus.

Zwei Tonnen Kompensation

An einer Grillbude isst er eine Bratwurst. Das ist sein Essen für den Tag. Im Auto hat er immer mal kurz an einer Wasserflasche genippt. Er steht und kaut. Er schaut sich um. Vor allem Touristen sind unterwegs, zu erkennen am bequemen Schuhwerk und Rucksäcken. Ein paar Einheimische, die gehetzt wirken. Für Autofahrer ist die Innenstadt von Schwerin kein guter Platz. Nass’ Wagen steht im absoluten Halteverbot. Er wirft die Würstchenpappe weg und freut sich, dass er keinen Strafzettel hat.

Das Auto ist sein neunter Dienstwagen, seit er sich nach dem Mauerfall selbstständig gemacht hat. Er hatte einen Opel Monza, zwei Volvos, zwei Citroen C5 Kombi, einen Chrysler 300 M Kombi, zwei Grand-Cherokee-Jeeps. Meist hat er die Autos je 220.000 bis 250.000 Kilometer gefahren, dann kam das nächste. Bis auf den ersten alles Diesel. Und seit Mai den Audi SQ8, fünf Meter lang, fast zwei Meter breit, 1,70 Meter hoch, sein erstes Auto der Luxusklasse. Gebraucht gekauft, trotzdem nicht billig, aber für Nass eine hervorragende Investition. Es verwöhnt ihn mit Service, Modernität und Spitzenleistung. Es macht ihm sein Leben auf der Straße leichter. Das Auto ist eine zwei Tonnen schwere Kompensation für alles, was er sich von der Politik bieten lassen muss.

Aus Informationen werden Theorien und Ansichten

Das Handy klingelt, Nass schaltet die Freisprechanlage ein und vernimmt, dass der Oberpollinger in München ein Sofa verkauft hat, woran er verdient, weil das Kaufhaus zum KaDeWe-Konzern gehört und das KaDeWe in seinen Bereich.

Verdrossen bis verachtend. Peter Nass hat wenig für die Inhalte der deutschen Parteien übrig.
Verdrossen bis verachtend. Peter Nass hat wenig für die Inhalte der deutschen Parteien übrig.

© Ariane Bemmer

Die Telefonate sind willkommene Ablenkung. Nass weiß, dass er viel allein ist auf seinen Touren. Dass sich da Informationen schneller zu Theorien und Ansichten verdichten, als wenn jemand zum Reden da wäre. Einige seiner Ansichten sind zu Überzeugungen geworden, viel Schmeichelhaftes für die aktuelle Politik bieten sie nicht. Und wenn er dann an Plakatwänden vorbeifährt, auf denen nebeneinander SPD, Grüne und FDP mit Veränderungen für sich werben, dann kann ihn auch mal die Verachtung packen. Wobei er nicht zu den Querdenkern gehören will, das ist ihm zu dumm.

Er ist für zwölf Euro Mindestlohn und für Klimaschutz, aber anders. Er ist für Solarzellen auf allen Dächern, zur Not mit staatlicher Unterstützung. Dafür, dass öffentliche Verkehrsmittel gratis oder sehr günstig sind, für Sperren vor den Zugängen gegen Schwarzfahrer wie in London. Aber dagegen, hier Atomstrom und Kohle abzuschalten und sich damit abhängig zu machen von Atomstrom aus Tschechien – und wenn China gleichzeitig neue Kohlekraftwerke baut. Hirnrissig findet er das. Vorsätzlich falsch.

Er wählt seit 2009 ungültig

Nass sieht sich als typischen FDP-Wähler, aber seit den Steuererleichterungen für Hoteliers gleich nach dem Regierungsbeginn 2009 ist damit Schluss. Seitdem wählt er ungültig.

Der Audi rollt auf den Parkplatz vom Pflanzencenter Blumenthal in Putlitz, einer Gegend, die sich von nachhaltigen Verkehrs- und Klimaplänen ebenso bedroht sieht wie Nass und die Vertreter. Ohne Autos hätten sie hier keine Kundschaft. Ohne Autos hätten sie auch keine Mitarbeiter. Ohne Autos gibt es hier keine Verbindung nach irgendwo. Ohne Autos müssten die Azubis, die der Betrieb hat, wenn sie um acht Uhr in der Berufsschule sein sollen, um 5.30 Uhr los. Und dass sie überhaupt Azubis gefunden haben, ist in so einer öden Gegend ja ohnehin schon fast ein Wunder.

Bernd Blumenthal ist inzwischen in vierter Generation Chef im familieneigenen Betrieb. Sogar in DDR-Zeiten waren sie privat. Könnte es sein, dass ein Laden 40 Jahre Sozialismus übersteht, aber keine Bundesregierung mit Klimarettungsplänen?

Nass wollte bei Blumenthal einen Termin mit der Einkäuferin machen, aber die Kollegin ist krank geworden. Nass vertröstet sich selbst auf die Woche drauf und hat dann noch eine letzte Station auf dem Zettel. Ein Bestattungsinstitut im Nachbardorf, wo er Kataloge reinreichen will für den Chef. Als er angekommen ist, muss er feststellen, dass er keinen Weihnachtskatalog mehr im Kofferraum hat.

Danach wird Klara ein letztes Mal programmiert. Zurück zur Autobahn, zurück nach Berlin. Nass ist ein bisschen erschöpft. Auf der A19 fährt er zwischendurch mal Tempo 185, ohne dass man es dem Fahren anmerken würde. Sanft und leise schnurrt der Audi vor sich hin. Die Bordelektronik pingt manchmal und fordert Nass auf, er solle die Lenkung übernehmen. Dabei geht es nur geradeaus.

Ja ja, murmelt er dann und wechselt die Spur, um die Technik zu beruhigen.

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