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Oben der überfallene Zug, unten die Fluchtautos. Diese Eisenbahnbrücke schrieb britische Kriminalgeschichte.

© Imago/UIG/World History Archive

Legendärer Überfall auf britischen Postzug: Vor 60 Jahren erbeuteten Verbrecher unvorstellbare 2,6 Millionen Pfund

1963 war ein Jahr des Umbruchs für Großbritannien. Es ging um Sexaffären, den Beitritt zur EWG und eine neue junge Band: die Beatles. Doch dann dominierte mitten im Hochsommer ein ganz anderes Thema.

1963 war für Großbritannien ein Jahr des Wandels. Die Regierung des konservativen Premiers Harold Macmillan lag nach dem peinlichen Rücktritt des Verteidigungsministers wegen einer Sexaffäre in den letzten Zügen. Auch außenpolitisch gelang nichts: Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle legte sein Veto gegen den britischen Beitritt zur damaligen EWG ein, eine Kolonie nach der anderen verlangte und erhielt die Unabhängigkeit.

So sehr das Establishment schwächelte, so selbstbewusst gab sich die junge, konsumorientierte Generation. Deren Symbolfiguren begannen im selben Jahr ihren weltweiten Triumphzug: Die Beatles verkörperten mit hinreißender Musik und frechen Sprüchen im Liverpooler Akzent die Respektlosigkeit vor Autoritäten aller Art.

Ein Handschuh über dem grünen Signal stoppte den Zug

In diese Atmosphäre des Umbruchs platzte mitten im Hochsommer die Nachricht über einen sensationellen Raub. Am frühen Morgen des 8. August brachte eine 15-köpfige Gruppe maskierter Berufsverbrecher in Blaumännern den Postzug von Glasgow nach London-Euston bei Chessington (Grafschaft Buckingham) mit einem einfachen Trick zum Stehen: Über das grüne Signal stülpten die Räuber einen Handschuh, das rote hingegen schalteten sie mit einer Batterie auf Dauerbetrieb.

Ein beschädigter Waggon des überfallenen Postzugs, der von Glasgow nach London unterwegs war.
Ein beschädigter Waggon des überfallenen Postzugs, der von Glasgow nach London unterwegs war.

© dpa/epa/Thames Valley Police

Neben der normalen Post war wegen des verlängerten Ferienwochenendes in Schottland an diesem Dienstag auch sehr viel Geld in kleinen Scheinen an Bord, wie die Gang durch Insider-Tipps wusste.

Den 58 Jahre alten Lokführer Jack Mills schlugen die mit Knüppeln bewaffneten Gangster erst bewusstlos und zwangen ihn dann, seine Lok samt des Geld-Waggons zu einer Brücke zu fahren, unter der ein Lastwagen und Fluchtautos warteten.

Verbrechen ohne Opfer

Eine beschönigende Schlagzeile nach dem Raub, weil die „Gentleman-Verbrecher“ immerhin keine Schusswaffen eingesetzt hatten.

Die Räuber überwältigten und fesselten vier Postbeamte und einen Zugbegleiter. Dann bildeten sie eine Menschenkette und hievten 120 Geldsäcke, deren Gewicht insgesamt 2,2 Tonnen betrug, in den Lastwagen. Um die Flucht zu sichern, gab Anführer Bruce Reynolds nach genau 30 Minuten das Signal zur Flucht. Diese gelang, weil die Räuber generalstabsmäßig sämtliche Telefonleitungen in der Gegend gekappt hatten.

Rund um die Welt stürzten sich die Medien auf den Jahrhundert-Raub, der die damals schier unvorstellbare Summe von 2,6 Millionen Pfund – heute umgerechnet 70 Millionen Euro – erbracht hatte.

„Gentlemen-Räuber“ wurden glorifiziert

Alsbald war vom „Verbrechen ohne Opfer“ die Rede, immerhin hatten die „eleganten Gentleman-Räuber“ keine Schusswaffen eingesetzt. Zudem waren die meisten Banken gegen den Millionenverlust versichert. In Deutschland entstand das Fernsehspiel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ mit Horst Tappert als Bandenchef, auch unzählige Bücher glorifizierten die Täter.

Große Bündel mit Geld wurde in dieser Tasche entdeckt, die einem Mitglied der Bande gehörte.
Große Bündel mit Geld wurde in dieser Tasche entdeckt, die einem Mitglied der Bande gehörte.

© dpa/epa/Thames Valley Police

Dabei wurden die meisten rasch gefasst. Zwistigkeiten innerhalb der Bande, Neid und Gier der Londoner Unterwelt erbrachten der Kriminalpolizei ebenso wertvolle Hinweise wie die genaue Untersuchung des zeitweiligen Unterschlupfs der Zugräuber, ein heruntergekommener Bauernhof etwa 40 Kilometer vom Tatort entfernt.

Dort fanden die Ermittler nicht nur ein Teesieb, was sie fälschlich auf die Beteiligung von Frauen schließen ließ. Vor allem hafteten einer Ketchupflasche und einem Monopoly-Brett zahlreiche Fingerabdrücke an.

Einzelne Gangmitglieder, darunter auch Anführer Bruce Reynolds, setzten sich nach Mexiko und Kanada ab, von wo die meisten rasch ausgeliefert wurden oder wegen Heimwehs freiwillig nach England zurückkehrten – wie Christopher Edwards.

Der als „Buster“ (Knochenbrecher) bekannte Kriminelle verbüßte neun Jahre einer 15-jährigen Haftstrafe und kehrte anschließend in seinen erlernten Beruf als Florist zurück. Seinen Blumenstand hatte er bis zu seinem Selbstmord ausgerechnet vor dem Londoner Bahnhof Waterloo. Reynolds hingegen starb verarmt mit 81 Jahren in einer Sozialwohnung im Londoner Stadtteil Croydon.

Der unbedeutende Biggs wurde eine Berühmtheit

Richtig berühmt wurde vor allem der innerhalb der Bande gänzlich unbedeutende Ronald Biggs. Beim Prozess ein Jahr nach dem Jahrhundert-Verbrechen wurde er wie die meisten seiner Mittäter zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt; doch schon 1965 gelang ihm die Flucht aus dem Knast.

Über Australien schaffte er es nach Rio de Janeiro, wo er mit einer Tänzerin ein Kind zeugte, was ihn lange vor der Auslieferung in die Heimat bewahrte und zur Crime-Celebrity machte.

Für die Fotografen posierte er gegen Bares auf der Copacabana, Biggs-Becher und –T-Shirts fanden bei Touristen reißenden Absatz. Selbst die Fußballer-Legende Stanley Matthews entblödete sich nicht, dem Posträuber die Aufwartung zu machen.

Inszenierung als Lebenmann – Ronald Biggs mit seinem Hund.
Inszenierung als Lebenmann – Ronald Biggs mit seinem Hund.

© Imago/Zuma/Keystone

Und jede Wendung der Schmuddel-Biographie fand reichhaltigen Niederschlag in den Londoner Boulevardblättern. Dabei war „Ronnie“ ein unbedeutendes Licht, ja ein Versager: Der pensionierte Lokführer, den er im August 1963 als Mittäter verpflichtet hatte, kannte sich mit der modernen Lokomotive gar nicht aus.

Erst als schwerkranker, alter Mann kehrte Biggs 2001 auf die Insel zurück und saß weitere acht Jahre im Gefängnis, bis ihn der Justizminister kurz vor seinem 80. Geburtstag begnadigte.

Den Opfern jener Augustnacht brachte Biggs bis zu seinem Tod vor knapp zehn Jahren nur achselzuckende Gleichgültigkeit entgegen. Lokführer Jack Mills hatte nach der brutalen Attacke sein Berufsleben beenden müssen; er litt an schweren Kopfschmerzen und starb 1970 an Leukämie. Sein Beifahrer David Whitby, den die Räuber vom Bahndamm geworfen hatten, konnte zwar in den Führerstand einer Lok zurückkehren, er starb aber 34-jährig an einem Herzinfarkt.

Immerhin ist der einstige Glamour des Verbrechens inzwischen einer realistischeren Betrachtung gewichen. Ein gründlich recherchierter BBC-Zweiteiler erzählte die Geschichte des „Großen Postzugraubs“ 2013 aus der Perspektive sowohl der Räuber wie der auf sie angesetzten Sonderkommission. Den Tatort haben die Behörden von Bridego-Brücke in Mentmore-Brücke umbenannt.

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