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Die Geschichte von NTM um DJ Dee Nasty (Andranic Manet). 

© Arte / Jean-Claude Lother

Arte-Serie über HipHop: Vom Hinterhof zum Milliardengeschäft

„Ich habe drüben die Zukunft gesehen.“ Eine fulminante Arte-Serie zeichnet die Ursprünge des französischen HipHop nach.

Wer Visionen hat, meinte der große Wortschöpfer Helmut Schmidt im Bundestagswahlkampf 1980, solle zum Arzt gehen. Welch ein Glück, dass der große Soundschöpfer Daniel Bigeault den Rat des Bundeskanzlers drei Jahre später missachtet und seine Visionen nicht behandeln, sondern Wirklichkeit werden lässt.

„Ich hab‘ drüben die Zukunft gesehen“, erzählt er von San Franzisko, wo Musiker „ohne Instrumente was vollkommen Neues“ kreieren, und zurück in Frankreich verrät der Vorstadtbewohner auch, welche das sind: DJs. Wenn die ihr Vinyl bearbeiten, „pumpt es in den Venen, reine Energie“, schwärmt er von US-Partys, stößt damit aber auf taube Ohren.

„Bist du jetzt in einer Sekte?“, fragt ein Kumpel. Monate, bevor Daniel als Dee Nasty Geschichte schreiben wird, klingt die Vorstellung, mit Platten und Mischpult mehr als Songs anderer zu reproduzieren, selbst in der kosmopolitischen Hauptstadt irgendwie esoterisch, einerseits. Andererseits liefert gerade das den Märchenstoff einer sagenhaften Serie („Die Welt von morgen“, Arte, sechs Folgen, ab 20. Oktober, Mediathek).

Ihr Titel „Die Welt von morgen“ ist in jeder Hinsicht Programm. Als Daniel (Andranic Manet) im Plattenbaughetto von Saint-Denis das Fußballtalent Bruno Lopes (Anthony Bajon) und den perspektivlosen Didier Morville (Melvin Boomer) trifft, verbünden sich da zwar drei künftige Trendsetter zur realexistierenden Keimzelle des frankophonen HipHop. Bis dahin ist es aber noch ein steiniger Weg, den die Showrunner Katell Quillévéré und Hélier Cisterne zum beispielhaften Biopic verdichten.

Während Daniel den Verlust der Plattensammlung, also seiner Arbeitsgrundlage beim Radio verkraften muss, leidet der schwarze Didier unterm prügelnden Vater (Ismaël Sy Savané), was sogar noch patriarchaler ist als der krankhafte Ehrgeiz von Papa Lopes, dem Brunos Profikarriere als einziger Weg aus der Chancenlosigkeit französischer Vorstädte erscheint.

Denen allerdings entkommen die drei ungleichen Freunde erst mithilfe des HipHop. Als Dee Nasty übt Daniel wie besessen am Mixer, produziert den mutmaßlich allerersten French-Rap und veranstaltet illegale Partys, auf denen bald auch Kool Shen und Joey Starr auftreten, wie sich Bruno und Didier nennen. Ihr Duo sorgt dabei weit über die Hinterhöfe hinaus für Furore. Wobei schon dessen Name grob die Richtung der Reise zur Welt von morgen andeutet: in den subkulturellen Widerstand.

NTM steht für „nique ta mère“, der szenetypischen Aufforderung zum Inzest, mit dem die zwei Motherfucker ihre Sittenverachtung zeigen. Da lässt es nicht lange auf sich warten, bis die Polizei parallel zum Aufstieg des Front National um Marie Le Pens Vater Jean-Marie zurückschlägt.

Im Gleichschritt mit der Staatsmacht wird NTM demnach erfolgreicher, aber auch radikaler, was das Biopic mit jeder Folge wütender macht und somit das genaue Gegenteil vom artverwandten Wohlfühlformat hiesiger Herkunft ist.

Anfang 2022 stellte Warner den Ursprung deutschen Sprechgesangs mit fiktionalem Personal nach und bekam viel Lob für die leichtfüßige Darstellung der provinziellen Pioniere im künftigen Milliardenbusiness. Im Vergleich mit „Almost Fly“ ist „Die Welt von morgen“ fast humorfrei. Wenn der unprätentiös glaubhafte Cast damalige Banlieues zwischen Gewalt und Drogen bevölkert, wird anders als sonst in Brennpunktstudien niemand vorgeführt.

Die Verantwortlichen haben dem historisch verbürgten Männerpersonal zwei fiktive Frauen von vorbildlicher Präsenz hinzugefügt: Léo Chalié als Daniels Förderin Béatrice und Laïka Blanc-Francard als durchsetzungsstarke Graffiti-Anarchistin Lady V an der Seite des weit weniger coolen Bruno. Das tut einer Serie, die um Diversität bemüht ist, ausnehmend gut.

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