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Sex-Pistols-Frontsänger Johnny Rotten wird von Anson Boon (Mitte) dargestellt, Sid Vicious (links) von Louis Partridge und Steve Jones von Toby Wallace.

© Miya Mizuno/FX

Die Sex Pistols bei Disney+: Denkmäler für echte Punk-Heroen

Über das ultimative Ventil einer Generation: Die auf den Steve-Jones-Memoiren aufgebaute Serie „Pistol“.

Das ging fix. Innerhalb von drei Jahren wurde ein Movement erfunden, zum Erfolg geführt, und wieder zerstört. 1975 stachen sich Anarchist:innen aus dem Umfeld der britischen Modedesignerin Vivienne Westwood und ihrem Partner, dem Impresario und Provokateur Malcolm McLaren, Sicherheitsnadeln durch die Wangen, und garnierten Bondage-Outfits mit Hakenkreuzen. Dem im Mainstream angekommenen Rock machten die teilweise von McLaren gecasteten Sex Pistols durch den Zusatz „Punk“ und eine dementsprechende Attitude medienwirksam den Garaus. Schon 1978 löste sich die Band auf. Kurz darauf starb Bassist Sid Vicious an einer Überdosis.

Aber natürlich sind die Sex Pistols nicht vergessen. Im Gegenteil: Für den britischen Regisseur Danny Boyle, der 1996 in der Roman-Adaption „Trainspotting“ mit Hingabe eine verlorene Generation im Drogenrausch portraitierte, und für viele andere war Punk eine prägende Bewegung, deren Einfluss bis weit in die Gegenwart reicht. Punk gab sich politisch radikaler als die 68er, selbstzerstörerischer als die Kiffer, dreckiger als die musikalisch geübten Hard-, Glam- und Progrocker und ihre Eltern, die Rockabillys. Und schmiss konsequenter alles Frühere über Bord.

Die von Danny Boyle inszenierte Serie „Pistol“, für die der Baz Luhrmann-Autor Craig Pierce die Memoiren des Sex Pistols-Gitarristen Steve Jones zu einem Drehbuch verdichtete, gibt sich viel Mühe, ihre Held:innen aus der Zeit heraus zu erzählen. Boyle mischt dokumentarisches Originalmaterial der kriegstraumatisierten, verkrampften und bis zur „steifen Oberlippe“ klassenbewussten britischen Gesellschaft zwischen Szenen, in denen die in Vivienne Westwoods Londoner Modegeschäft „SEX“ arbeitende Jordan (Maisie Williams) im Zug Richtung City sitzt, und zum Wave-Beehive und zentimeterdickem Lidstrich einen transparenten Regenmantel über den nackten Brüsten trägt.

Die Mitreisenden sind schockiert. Später erklären Jordan und Vivienne Westwood (Talulah Riley) dem mittellosen Möchtegernmusiker Steve Jones (Toby Wallace), warum sie so auftreten: „This is a vulva powered operation“, ein Vulva-Einsatz. „Why take the train if you have a Volvo?”, fragt der Arbeiterjunge, der weder den Begriff Vulva noch feministische Ideologien kennt, verdattert zurück.

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Steve freundet sich trotzdem mit Chrissie (Sydney Chandler) an, eine US-Gitarristin, die ebenfalls bei „SEX“ arbeitet, und eine Musikerinnenkarriere anstrebt. Die sie, wie man weiß, auch erreichen wird: Chrissie Hynde, Frontfrau der Pretenders, hat tatsächlich eine Weile in der berüchtigten Keimzelle der Punkbewegung gearbeitet.

Boyle und Pierce, dessen sensuelle Handschriften durch Collagen, Videoclip-Ästhetik und intuitive Schnitte erkennbar ist, erzählen einerseits an Jones’ Biografie entlang: Geprägt von einer traumatischen und missbräuchlichen Kindheit entdeckt er den Punk, wie so viele um ihn herum, als ultimatives Ventil. Ein Ventil, das der Rest der Gesellschaft und der Band mit Johnny Rotten (Anson Boon) und später Sid Vicious (Louis Partridge) ebenfalls braucht – Rotten wird von Boon mit Gollum-Gesichtsausdruck und beängstigend nervöser Körperspannung gespielt, Vicious kann seinem inneren Druck nur durch den Heroin-Druck beikommen.

Andererseits geht es Boyle und Pierce um die Frage, inwiefern eine Jugendbewegung überhaupt eine Jugendbewegung sein kann, wenn sie von einem fast 30jährigen, manipulativen Intriganten orchestriert wurde: Sie zeigen Malcolm McLaren (Thomas Brodie-Sangster) als rothaarigen Svengali. McLaren erkennt die explosive Energie, die in der traumatisierten Jugend, und damit auch in Jones, Rotten und Lydon steckt – und er weiß sie zu nutzen.

Er stellt Verbindungen (zur Musikbranche) her, und kappt andere; er wiegelt die Bandmitglieder für eine authentischere Performance gegeneinander auf, wirft einen Gitarristen raus, weil es „für einen Rockstar verboten ist, eine Brille zu tragen“, und entscheidet sich für Vicious statt dem Bassisten Glen Matlock (Christian Lees), weil Vicious schlichtweg kaputter ist.

I made you matter!

Sid Vicious, Sex Pistols

Der energetische Brodie-Sangster bringt das sprachgewaltige, schlaue Ego McLarens auf den Punkt, wenn er seine Band mit „my sexy young assasins“ anspricht, unverfroren jede Situation zu seinem Vorteil nutzt, und der drohenden Bandauflösung die Worte „I made you matter!“ entgegendonnert.

So werden gut platzierte Sprüche, Spuckattacken bei Konzerten und Denkmäler für echte Punk-Heroen kompiliert – neben Jordan, die es wirklich gab, widmet sich eine Folge einer realen, mental verwahrlosten Fan-Frau, die aus einer psychischen Anstalt geflüchtet war, und ihr verstörendes Trauma in der Handtasche mit sich führte.

Dennoch verlässt sich „Pistol“ viel zu wenig auf seine virtuosen und atmosphärischen Bilder. Immer wieder erklären die Beteiligten ihre Motive, Beziehungen und Ziele, immer wieder sprechen sie das längst auf der Bild- und Emotionsebene Etablierte aus. Diese Doppelung der Aussagen langweilt auf Dauer – und kann nicht vertuschen, dass die Serie trotz formalem Tamtam oft nicht mehr als einen braven, üblichen Bandgründungsmythos inklusive Machtkämpfe und Soundfindung bedient.

Auch der Versuch, den weiblichen Nebenfiguren durch fragmentarische Storylines Profil zu verleihen, klappt nur bedingt: Dem unglaubwürdigen Chrissie-und-Steve-Liebes-Plot merkt man an, dass er hinzuerfunden wurde. Denn die beiden kannten sich nicht, und hatten schon gar kein Verhältnis.

Zudem ist Boyles Serie mit sechs fast einstündigen Folgen einfach ein wenig zu lang für die kurze Lebensdauer der Punk-Bewegung. Punk kam, zerstörte, und ging brüllend unter. Boyle dagegen möchte sein Sentiment möglichst lange genießen.

„Pistol“, ab 28. September bei Disney+

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