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Stadttauben sind perfekte Kulturfolger.

© picture alliance / Willfried Gredler-Oxenbauer / picture alliance / Willfried Gredler-Oxenbauer

Inseln der Vielfalt: Wer Vögel sehen will, muss in die Stadt kommen

Vögel leiden weltweit massiv unter ökologischen Veränderungen. Doch ausgerechnet dort, wo man es am wenigsten vermutet, finden sie bisweilen noch Refugien: in Städten. Ein Auszug aus dem Buch „Wanderer zwischen den Welten. Was Vögel in Städten erzählen“

| Update:

Vögel haben uns Menschen schon immer begleitet. In Städten sind sie die Wildtiere, denen man am häufigsten begegnet. Wie eng manche Vogelarten mit unserem Dasein verbunden sind, zeigt sich in Sprichwörtern und in den Namen, die wir ihnen gegeben haben: Haussperling. Turmfalke. Mauersegler. Stadttauben.

Wir wählen lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Wir bezeichnen unsere Kinder als Dreckspatzen und schießen mit Kanonen auf Spatzen. Was in Norddeutschland dem einen sin Uhl ist, ist dem anderen sin Nachtigall. Und in Berlin hört man die Nachtigall sogar trapsen.

Doch die Vogelwelt verändert sich. Seit wenigen Jahren nimmt weltweit die Zahl der Vögel rasant ab. Sie, die doch eigentlich nur ihre Flügel aufspannen müssten, um dorthin zu gelangen, wo es ihnen besser geht, finden solche besseren Orte immer seltener. Das gilt auch für die Nahrung, die sie für sich und ihren Nachwuchs benötigen: Insekten, Amphibien und andere Futtertiere sowie Körner und Samen. Wir Menschen sind gut darin, die Lebensbedingungen der Vögel zu verändern. Wir zerstören ihre Lebensgrundlagen und ihre Nischen. Doch schaffen wir zugleich auch neue.

Unter Vogelexpertinnen und -experten kursiert deshalb heute ein Witz: Wohin schickt man jemanden, der nach Deutschland kommt, um hier die Vogelwelt kennenzulernen? Na klar, nach Berlin. Nicht in den Bayrischen Wald, nicht in den Harz und auch nicht ins Untere Odertal. Nein, direkt rein in den hässlichen grauen Moloch. Es gibt wenige Orte hierzulande, wo man auf so kleiner Fläche so viele verschiedene Vogelarten beobachten kann.

Rund zwei Drittel aller in Deutschland vorkommenden Arten lassen sich in Berlin finden. Großstädte wie Hamburg, München und Köln sind ähnlich artenreich. Zählt man nach und rechnet jene Vögel hinzu, die sich nur zeitweise hier aufhalten, kommen auf jeden Stadtmenschen etwa zwei bis drei Vögel.

Natürlich ist die Vogelvielfalt nicht gleichmäßig über eine Stadt verteilt. Und manche Arten werden immer zu scheu sein, um menschliche Nähe zu ertragen, oder sie werden den Sprung in den urbanen Lebensraum nie schaffen, weil sie auch hier nicht die Bedingungen fänden, die sie bräuchten. Man braucht sich nichts vorzumachen: Städte sind nach wie vor weit davon entfernt, Naturparadiese zu sein. Verstädterung ist eigentlich sogar das Schlimmste, was einer Naturlandschaft passieren kann.

Das Leben bahnt sich seinen Weg

Böden werden mit Asphalt versiegelt, Bäume und Büsche müssen Straßen weichen, Wiesen werden zu Bauland umgewidmet. Ganze Landstriche entstehen, die nichts als kargen Felslandschaften ähneln: die Stadtzentren mit ihren Kaufhäusern und Bürotürmen. Sie haben mit der Natur, die sich dort einst befunden hat, nichts mehr gemein.

Doch das Leben bahnt sich seinen Weg. Es dringt zwischen Pflastersteinen empor, krabbelt über Steine und kackt einem auf den Kopf. Vielen der Pflanzen und Tiere, die in einer Region heimisch sind, gelingt es nach einiger Zeit, in die urbanisierten Landstriche zurückzukehren. Studien zeigen, dass in den Städten der Nordhalbkugel über alle Tier- und Pflanzengruppen hinweg mindestens die Hälfte der Arten zu finden ist, die im Umland leben.

Halsbandsittiche stammen ursprünglich aus Afrika und Asien, entkamen aber der Gefangenschaft und leben heute auch in europäischen Städten.
Halsbandsittiche stammen ursprünglich aus Afrika und Asien, entkamen aber der Gefangenschaft und leben heute auch in europäischen Städten.

© imago/blickwinkel / imago/blickwinkel

Denn Städte bestehen nicht nur aus ihren Zentren. Städte sind auch Parks, Friedhöfe, Dachgärten und Industriebrachen. Städte bilden ein Mosaik aus vielen verschiedenen Landschaftsformen, die ganz anders genutzt werden als in ländlichen Regionen.

500
Millionen Stadttauben leben schätzungsweise weltweit in Städten

Alte Bäume werden in Städten und Siedlungen eher gepflegt als abgeholzt. Grünstreifen an Bahntrassen können ungestört wuchern. Der Asphalt in den Fußgängerzonen lässt Hitzezonen entstehen, dort werden die Temperaturen im Sommer tropisch. Innerstädtische Naturschutzgebiete und Wälder kühlen dagegen die Luft. Manche solcher Lebensräume gibt es im Umland nicht mehr oder hat es nie gegeben. Sie sorgen dafür, dass die Vogelfauna in Städten bunt schillern kann. 

Agarwüste ohne Futter oder Nistplatz

„In unserer Zeit sind Städte zu Inseln der Vielfalt geworden“, schreibt der bayerische Zoologe Josef Reichholf in seinem Buch „Stadtnatur“, „ein Meer von Monotonie umgibt sie.“ Das monotone Meer, das Reichholf meint, sind die hektargroßen Flächen, in denen heute überall in ländlichen Gegenden hocheffizient Monokulturen angebaut werden. Rapsfelder und Fichtenforste sind für Vögel und andere Tiere regelrechte Wüsten, in denen sie weder Futter noch Nistplätze finden. Nicht alles, was grün ist, ist auch gut. Und nicht alles, was brach liegt, ist automatisch schlecht. Die Natur und das wilde Leben, nach denen wir uns sehnen und die wir so gerne suchen: Sie liegen oft gleich um die Ecke.  

Grauschwarze Nebelkrähen gehören zur gleichen Art wie die schwarzen Rabenkrähen.
Grauschwarze Nebelkrähen gehören zur gleichen Art wie die schwarzen Rabenkrähen.

© imago images/snapshot / imago images/snapshot

Und dann sind da noch wir Menschen selbst, jene Tiere, die die Städte überhaupt erst erbaut haben. Ständig hinterlassen wir Müll. Einerseits verschmutzt er Straßen und Parks, andererseits picken Krähen und Tauben Futter aus ihm. In Randbezirken verwandeln wir wilde Brachflächen in lebensfeindliche Schottergärten, gleichzeitig schmücken wir unsere Balkone und Fensterbretter mit insektenfreundlichen Blumen und Pflanzen.

Stadttauben  stammen wahrscheinlich verwilderten Haus- und Brieftauben ab.
Stadttauben stammen wahrscheinlich verwilderten Haus- und Brieftauben ab.

© picture alliance / Westend61 / picture alliance / Westend61

Wir Menschen gestalten unser Umfeld so, wie es uns passt. Mit den Konsequenzen, guten wie schlechten, müssen auch die Vögel leben. Die Vogelwelt verändert sich, in Städten mehr als anderswo. Wie unter dem Brennglas kann man dort beobachten, was es bedeutet, wenn der Mensch seine Umwelt formt.

„Gucklöcher in die Natur“

Viele Städte hierzulande können ihre ganz eigenen Vogelgeschichten erzählen, aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Traditionen, aufgrund der besonderen klimatischen Bedingungen oder aufgrund uralter naturgeschichtlicher Veränderungen. Die Geschichten der Stadtvögel handeln vom Ankommen, Bleiben und Gehen. Sie zeigen, wie Menschen und Vögel nebeneinander leben, wie sie dabei einander beeinflussen und manchmal auch brauchen. 

Haussperlinge oder Spatzen erkennt man an dem typischen „Tschilp“.
Haussperlinge oder Spatzen erkennt man an dem typischen „Tschilp“.

© imago/MIS / imago/MIS

„Es mag anziehender und schöner sein, von der Vogelwelt des Waldes oder der Seen zu erzählen, als die gefiederten Bewohner der großen Städte dort aufzusuchen, wo wir doch nicht so gern verweilen“, schrieb der sächsische Ornithologe Heinrich Frieling 1942. Die kleinen Grünanlagen, die er in der Stadt fand, waren für ihn „Gucklöcher in die Natur“.

Frieling verfasste seine Abhandlung über „Großstadtvögel“ mitten im Krieg, als viele Städte schon zerstört waren. Ein kleiner Vogel dagegen breitete sich damals so sehr aus, dass er in den Trümmern richtiggehend heimisch wurde: die Haubenlerche. Frieling konnte nicht ahnen, dass diese kleinen Vögel nur siebzig Jahre später in ganz Deutschland so gut wie ausgestorben sein würden, und das, obwohl sie eigentlich noch immer ideale Lebensbedingungen vorfinden könnten.

Frieling konnte auch nicht wissen, dass einmal Papageien als ganz normale Stadtbewohner die Orte entlang des Rheins besiedeln würden. Doch schimpfte er bereits über eine Vogelart, die zu seiner Zeit erst seit rund hundert Jahren die Städte für sich erobert hatte und heute die häufigste Art in Deutschland ist: die Amsel. Und würde Heinrich Frieling noch leben, wäre er vermutlich verblüfft darüber, dass Spatzen mittlerweile in manchen Städten so selten geworden sind, dass sie eigene Schutzmaßnahmen erhalten.

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