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Trauernde Fans anlässlich der Niederlage der marokkanischen „Atlaslöwen“

© picture alliance / Xinhua News Agency / Pan Yulong

„Wir sind doch wer!“: Warum es nach den Marokko-Spielen zu Ausschreitungen kam

Zwei Migrationsforscher über das komplexe Verhältnis zwischen Nachfahren maghrebinischer Einwanderer und europäischen Gesellschaften.

Nachdem es bei mehreren WM-Spielen der marokkanischen Nationalelf in Belgien, Frankreich und den Niederlanden zu Ausschreitungen durch marokkanisch-stämmige Fans gekommen war, waren die Sicherheitskräfte am Tag des Halbfinalspiels zwischen Frankreich und Marokko mit Großaufgeboten am Start. 10.000 Polizeibeamte wurden in Frankreich mobilisiert, 5.000 davon allein im Großraum Paris.

Entgegen der Befürchtungen kam es nach der marokkanischen Fußballniederlage nicht zu großflächigen Ausschreitungen. Während der Großteil der Feierlichkeiten friedlich verlief, gab es in mehreren französischen und belgischen Städten jedoch Zwischenfälle mit der Polizei.

Die Ausschreitungen marokkanisch-stämmiger Fans waren während der WM ein großes Thema in den Medien. Der Soziologe Mustapha El Miri von der Universität Aix-en-Provence sieht in der Medienaufmerksamkeit für dieses Thema eine gewisse Übertreibung. Ohne Zweifel sei es zu Vorfällen gekommen, so Miri.

Allerdings handele es sich dabei eben auch um „klassische Kriminalität“ kleiner Gruppen, die – unabhängig von ihrer Herkunft – Großveranstaltungen für Zerstörung und Diebstahl ausnutzten. Und in Frankreich seien bei den Zwischenfällen nach dem Halbfinale auch zahlreiche Personen aus dem rechtsextremen Spektrum festgenommen worden.

Der Verdacht, kein „echter“ Franzose zu sein

Für manche mag sicher ihre gesellschaftliche Marginalisierung ein Grund sein, so El Miri, sich bei solchen Großevents gegen jene zu wenden, denen sie ihren Ausschluss anlasten: „Viele Franzosen maghrebinischer Herkunft fühlen sich seit Jahren, manche lebenslang, von der französischen Identität ausgeschlossen.“

Gerade während der WM sei in den sozialen Medien, aber auch in klassischen Medien in Frankreich der Verdacht transportiert worden, Fans der marokkanischen Nationalmannschaft seinen keine „echten“ Franzosen oder Belgier. Der Druck auf Menschen ausländischer Herkunft, immer zu 200 Prozent zu beweisen, dass sie Franzosen seien, sei auch eine Form der Gewalt – verbal und symbolisch –, die leicht übersehen werde, sagt der französisch-marokkanische Soziologe.

Echte Integration funktioniert nicht, wenn der andere nicht als gleichwertig anerkannt wird.

Mustapha El Miri, Soziologe

Dennoch interpretiert Miri die frenetische Unterstützung der erfolgreichen marokkanischen Nationalmannschaft durch Franzosen marokkanischer Herkunft weniger als „identitären Akt“; sondern vielmehr als einen Anspruch auf „Gleichheit“ und Anerkennung: „Wir sind wie ihr“, solle damit ausgedrückt werden.

„Echte Integration funktioniert nicht, wenn der andere nicht als gleichwertig anerkannt wird und sich nur assimilieren soll,“ betont Miri. Vielleicht könne die WM nun den Weg für eine echte Integration ebnen – in eine „pluralistische und kosmopolitische Identität“. Diese hätten Frankreich und Belgien ja eigentlich längst, wollten sie nur oft nicht sehen.

Mangelnde Selbstkritik

Ruud Koopmans, Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität, kann die Begeisterung marokkanisch-stämmiger Menschen in Europa bei der WM gut nachvollziehen. Dass es bei einem Teil der Fans zu aggressivem Verhalten gekommen sei, erklärt Koopmans unter anderem mit der mangelnden Selbstkritik: „Für das individuelle Scheitern des Migranten, aber auch seines Herkunftsland, wird die Schuld oft bei anderen gesucht.“ Darum könne sich der Stolz auf die eigene Leistung in Aggression gegen den Weste verwandeln.

Die Zwischenfälle bei den Fanfeiern seien für Koopmans kein Grund, vom Scheitern der Integrationspolitik zu sprechen. Zu den Ausschreitungen sei es unter anderem in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich gekommen und die drei Länder hätten sehr unterschiedliche Integrationspolitiken. „Das hat mehr damit zu tun, dass diese Gruppe von Migranten schlechter abschneidet als andere,“ sagt Koopmans.

Mit einer gescheiterten Integrationspolitik will der Direktor Direktor der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung am WZB in Berlin die Zwischenfälle bei den Fanfeiern nicht erklären.

Diese seien in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich zu beobachten gewesen, obwohl alle drei Länder extrem unterschiedliche Integrationspolitiken hätten, sagt Koopmans. „Das hat mehr damit zu tun, dass diese Gruppe von Migranten schlechter abschneidet als andere Einwanderungsgruppen“, sagt Koopmans.

Verantwortlich dafür macht er „kulturelle Ursachen“, aber auch die „Diskriminierung“, die diese Gruppen erfahren. Dabei spiele auch Religion eine Rolle. „Die soziale Distanz zwischen muslimischen Gruppen und dem Rest der Gesellschaft ist größer als bei anderen Migrantengruppen“, sagt Koopmans.

Insbesondere bei konservativen Religionsauslegungen seien auf Seiten der Zugewanderten viele Regeln auf Abgrenzung gerichtet. Das sei nicht förderlich für die Integration und schlage sich auch negativ bei Bildung und auf dem Arbeitsmarkt nieder, erklärt Koopmans.

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