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Nach Angaben der israelischen Armee kam es zu „einem massiven Feuerwechsel“ mit bewaffneten Palästinensern.

© AFP/Jaafar Ashtiyeh

Eskalation und sechs Tote in Jenin: Verliert Israel die Kontrolle im Westjordanland?

Die Eskalation des Militäreinsatzes in Jenin verstärkt eine gefährliche Dynamik: Je mehr Israel gegen terroristische Strukturen kämpft, desto größer die Motivation der Palästinenser Widerstand zu leisten.

Die seit Langem angespannte Lage im Westjordanland droht weiter zu eskalieren, nachdem ein israelischer Militäreinsatz dort am Montag außer Kontrolle geraten ist. Israels Armee, die IDF, hatte zwei Verdächtige in der palästinensischen Stadt Jenin festnehmen wollen, wobei es Armeeangaben zufolge zu „einem massiven Feuerwechsel“ zwischen den Sicherheitskräften und bewaffneten Palästinensern kam.

Ein gepanzertes Militärfahrzeug wurde von einem Sprengsatz beschädigt, und Israels Armee setzte erstmals seit der Zweiten Intifada Anfang des Jahrtausends Kampfhubschrauber im Westjordanland ein, um feindliche Ziele aus der Luft zu beschießen.

Auf der palästinensischen Seite kamen bei den Kämpfen fünf Menschen ums Leben, darunter ein 15-Jähriger, mindestens 90 Personen wurden palästinensischen Angaben zufolge verwundet; einer von ihnen erlag am Dienstag seinen Verletzungen. Zudem erlitten sieben israelische Einsatzkräfte leichte bis mittelschwere Verletzungen.

Eine neue Eskalationsstufe

Seit einer tödlichen Anschlagsserie im Frühling vergangenen Jahres führt die IDF in hoher Frequenz Anti-Terror-Razzien im Westjordanland durch, regelmäßig treffen die Soldaten dabei auf Gegenwehr.

Je stärker die Terrorwelle, desto mehr verliert die Palästinensische Autonomiebehörde ihre Fähigkeit, die Kontrolle vor Ort aufrechtzuerhalten.

 Udi Dekel,  israelische Sicherheitsexperte.

Die Kämpfe vom Montag bedeuten jedoch eine neue Eskalationsstufe. Der Sprengsatz, mit dem die Palästinenser das Militärfahrzeug getroffen hatten, sei „ziemlich fortschrittlich“, sagte ein Sprecher der Armee. Der Einsatz eines solchen Sprengsatzes sei ungewöhnlich und könne die Art und Weise beeinflussen, wie die IDF im Westjordanland vorgehe, fügte er hinzu, ohne ins Detail zu gehen.

Seit Längerem gilt Jenin im nördlichen Westjordanland als Hochburg für palästinensische Militante und Gruppierungen, die von westlichen Ländern als Terrororganisationen eingestuft werden, darunter der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ).

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die formal für die Sicherheit in Jenin und anderen palästinensischen Bevölkerungszentren im Westjordanland zu ständig ist, hat nach Einschätzung der meisten Analysten weitgehend die Kontrolle über die Stadt verloren. Dies ist einer der Gründe, die häufig von israelischer Seite für die regelmäßigen Einsätze der IDF dort angeführt werden.

Der israelische Sicherheitsexperte Udi Dekel, der am Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv ein Forschungsprogramm zu den Palästinensergebieten leitet, warnt allerdings vor einer gefährlichen Dynamik: „Je weiter die IDF ihre Operationen gegen terroristische Infrastruktur verstärkt, desto stärker steigt die Motivation junger Palästinenser, sich am bewaffneten Widerstand zu beteiligen“, schreibt er.

Und „je stärker die Terrorwelle anschwillt, desto mehr verliert die Palästinensische Autonomiebehörde ihr Gewaltmonopol, ihre Relevanz und ihre Fähigkeit, die Kontrolle vor Ort aufrechtzuerhalten.“

Sechs Palästiner wurden beim Militärseinsatz getötet.

© REUTERS/RANEEN SAWAFTA

Würde die PA kollabieren, müsste Israel ihre Aufgaben im Westjordanland übernehmen: von sämtlichen zivilen Belangen bis hin zu innerer Sicherheit. Sicherheitsexperten wie Udi Dekel warnen vehement vor einem solchen Szenario; es würde „das Abrutschen in eine Ein-Staaten-Realität“ beschleunigen, wie Dekel schreibt.

Aus der Sicht mancher ultrarechter Politiker dagegen scheint dies ein erstrebenswertes Ziel zu sein. Israels Minister für nationale Sicherheit, der vorbestrafte Rechtsextreme Itamar Ben-Gvir, plädierte noch im Wahlkampf Ende letzten Jahres für die Auflösung der PA.

Radikale Forderungen im politischen Mainstream

Die Errichtung eines Palästinenserstaates an der Seite Israels, wie die internationale Gemeinschaft seit Langem fordert, lehnen er und seine Partei, die rechtsextreme „Jüdische Stärke“, kategorisch ab. Den Palästinensern, die damit dauerhaft unter israelischer Herrschaft leben würden, will er aber auch kein Wahlrecht zugestehen. Die Folge einer solchen Politik wäre ein einziger Staat – ohne gleiche Rechte für Israelis und Palästinenser.

Itamar Ben Gvir, Vorsitzender der rechtsextremen israelischen Partei Otzma Yehudit (Jüdische Kraft).

© dpa / Ilia Yefimovich

Viele Jahre galt Ben-Gvir selbst unter Israels Rechten als politischer Paria. Mit seinem Aufstieg zum Minister aber dringen seine radikalen Forderungen nun in den politischen Mainstream vor. Dazu gehört auch der massive Ausbau israelischer Siedlungen, den auch der kaum minder radikale Finanzminister Bezalel Smotrich von der Partei „Religiöser Zionismus“ vorantreibt.

Am Sonntag beschloss Israels Kabinett, die Prozedur zur Genehmigung neuer Siedlungen erheblich zu beschleunigen und Smotrich an wichtigen Punkten Einfluss über den Prozess zu gewähren. Die jüngste Warnung der US-Regierung, sie sei darüber „sehr besorgt“, dürfte die Entscheidung ebenso wenig beeinflussen wie ähnliche Äußerungen aus Washington zuvor.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dem es an guten Beziehungen zu den USA liegt, scheint seinen Koalitionspartnern wenig entgegensetzen zu können: Weil keine Oppositionspartei mehr mit ihm kooperieren will, braucht er die Radikalen für den Machterhalt.

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