zum Hauptinhalt
Bisher wurden 64 Tote geborgen.

© action press/Splash News

Flüchtlingskatastrophe vor Kalabrien: Auch Rotkreuzschwester bezweifelt offizielle Version

War den Schiffbrüchigen wirklich nicht früher zu helfen? Daran wachsen die Zweifel. Und die Hektik der Fluchthelfer könnte zusätzlich Leben gekostet haben.

Im Italien mehren sich Zweifel an der offiziellen Version der Behörden über die Hilfe für die Schiffbrüchigen vor der kalabrischen Küste vom Sonntag. Bisher sind 64 Tote geborgen worden. Etwa 80 Menschen, darunter Kinder, überlebten, von den vermutlich dreißig übrigen Passagieren fehlt bisher jede Spur.  

Nachdem am Sonntagabend bereits ein Arzt und langjähriger Helfer bei ähnlichen Unglücken im Fernsehen erklärt hatte, das Wetter habe – anders als das Innenministerium behauptet – die Rettungsaktionen nicht verhindern müssen, zitierte die Zeitung „il manifesto“ in ihrer Dienstagausgabe eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes.

Patrizia Alampi, IRK-Verantwortliche für die Freiwilligeneinsätze von Krankenschwestern in der Region, erinnerte an eine Rettungsaktion von November 2021. Die Zeitung zitiert sie mit den Worten: „Damals waren wir mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, ein Boot zerschellte auf den Klippen. Wir konnten 80 Menschen retten.“

Minister will Helfer wegen übler Nachrede anzeigen

Der Arzt Orlando Amodeo, der nach eigenen Angaben seit 30 Jahren an Rettungsaktionen teilnimmt, hatte seinerseits von einem Einsatz berichtet: „Vor ein paar Jahren sind wir zu sechst auf einer kleinen Barke bei Stärke sieben bis acht ausgelaufen und konnten 147 Menschen retten.“

Das ist keine Tragödie, sondern das Ergebnis dieser ruchlosen Politik. Es ist, was wir wollen.

Orlando Amodeo, Arzt und Einsatzhelfer in Kalabrien

Amodeo fügte hinzu, das Unglück von Sonntag sei „keine Tragödie, sondern das Ergebnis dieser ruchlosen Politik“, es sei „das, was wir wollen“. Das Innenministerium hat ihm deswegen mit einer Verleumdungsklage gedroht. Minister Piantedosi hatte auf einer Pressekonferenz am Sonntag Verweise auf die Abschottung Europas und Italiens gegen Flüchtlinge mit einer Schuldzuweisung an deren Adresse pariert:

Auch Verzweiflung sei kein Grund, seine Kinder tödlicher Gefahr auszusetzen. In der komplexen Situation der Migration übers Mittelmeer sei nur so viel klar: „Der Start muss verhindert werden.“ Er formuliere eine „ethische Botschaft“, wenn er sage: „Sie dürfen nicht ablegen.“

Keine Boote der Hafenbehörde im Einsatz?

Er wiederholte, wegen des starken Wellengangs bei Windstärke 6 habe man sich dem auseinandergebrochenen Boot nicht ausreichend nähern können. In einem Interview mit dem „Corriere della sera“ bekräftigte Piantedosi:  „Es gab keinerlei verzögerte Hilfe. Ich weiß, dass alle Anstrengungen unternommen wurden, die unter diesen asbsolut widrigen Umständen auf dem Meer überhaupt möglich waren.“

Den offiziellen Berichten zufolge wurde das Boot mit den Flüchtlingen bereits am Samstagabend gegen 22.30 Uhr von einem Flugzeug der EU-Grenzagentur Frontex entdeckt, die zwei nahe Boote der Steuerfahndung alarmierte. Auch die Guardia di Finanza übernimmt in Italien zum Teil Seenotrettungsaufgaben. Stunden später, gegen 4.30 Uhr hörten Fischer, die gerade ausliefen, den lauten Aufprall des Boots an den Klippen der Küste.

Boote, die auch bei hohen Windstärken manövrierfähig sind, wurden Medienberichten nach nicht eingesetzt. Sie unterstehen der Hafenbehörde von Crotone – und damit dem Verkehrs- und Infrastrukturministerium. Das leitet seit der letzten Wahl Matteo Salvini.

Als Innenminister 2018 und 2019 hatte Salvini die Häfen rabiat gegen Schiffe gesperrt, die dort Schiffbrüchige in Sicherheit bringen wollten, darunter auch die von Küstenwache und Guardia di Finanza. Er steht deswegen vor Gericht. Die Hafenbehörde ist derzeit für Journalistenanfragen nicht zu erreichen.

Massiver Aufprall machte die Trümmerteile zu Waffen

Inzwischen ist ein Verfahren gegen vier Männer eröffnet, die das Boot nach Aussagen der Überlebenden gesteuert haben. Demnach haben sie gerade auf dem letzten Stück ihrer Fahrt, die drei Tage zuvor im türkischen Izmir begann, das Boot stark beschleunigt. Der Aufprall sei dadurch besonders heftig geworden, umherfliegende Trümmerteile hätten die Wirkung von Messern bekommen.

Die Fluchthelfer hätten es zudem eilig gehabt, wird berichtet. Sie wollten unbedingt am Wochenende ankommen, weil sie dann weniger Kontrollen an der Küste fürchteten.

Viele der Überlebenden haben ihre ganze Familie verloren, Kinder ihre Eltern und Geschwister. Ein 43-jähriger Mann aus Afghanistan berichtete einem Koordinator von „Ärzte ohne Grenzen“, dass seine Frau und drei Kinder im Alter von elf, fünf und drei Jahren das Unglück nicht überlebt hätten. Nur der 14-jährige älteste Sohn und er seien noch am Leben. Der Mann, so berichtet der „Corriere della sera“, habe seine Familie vor den Taliban in Sicherheit bringen wollen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false