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US-Präsident Joe Biden und Wolodymyr Selenskyj, Staatsoberhaupt der Ukraine, an der Gedenkmauer für die gefallenen Soldaten.

© Uncredited/Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

Geächtete Streumunition für Ukraine: Bidens Entscheidung fordert die Moral des Westens heraus

Die Gegenoffensive der Ukraine stockt. Die USA liefern Kiew nun „Clusterbomben“. Können Deutschland und die Nato-Partner in Europa das mittragen? Der Kriegsverlauf droht das Bündnis zu spalten. 

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Seit 500 Tagen tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Zehntausende Menschen sind gestorben, Hunderttausende für ihr Leben gezeichnet durch Verletzungen, Folter, Traumata, Flucht und Heimatverlust.

Seit dem russischen Angriff war für die meisten Deutschen klar, dass sie helfen wollen – und auch wem. Wer die Ukrainer unterstützt, steht auf der Seite der Guten. Zwei Drittel der Deutschen sind für Waffenlieferungen. Doch ihr Gefühl, das moralisch Richtige zu tun, wird nun doppelt herausgefordert.

Erstens steht die Militärhilfe unter der Prämisse, dass sie die Dinge zum Besseren wendet und das Leiden und Sterben nicht verlängert. Die Ukrainer kommen bei der Rückeroberung jedoch nur stockend voran. Die „Frühjahrsoffensive“ begann erst im Juni und läuft sich an den Verteidigungslinien der Russen fest.

Was sagen die Grünen und die SPD zu Streubomben?

Nun genehmigt US-Präsident Joe Biden die Lieferung von „Clusterbomben“. Mehr als hundert Länder haben diese Streumunition, die viele kleine Munitionsteile in die Umgebung schleudert, geächtet, auch Deutschland und die meisten Nato-Staaten. Eine Sorge neben der Verstümmelung von Soldaten: Ein Teil der Munition bleibt im Boden und kann auch nach Kriegsende Zivilisten töten.

Das führt zu drängenden Fragen: Ist, weil der erhoffte Erfolg, ausbleibt, nun jedes Mittel recht, um den Kriegsverlauf zu wenden? Wird dies das Bündnis spalten? Seit wann weiß die Bundesregierung davon, und hat sie Einspruch erhoben? Und wie verhalten sich die Grünen sowie der pazifistische Flügel der SPD?

Wenn westliche Verbündete geächtete Waffen liefern, stellt das die moralische Überlegenheit infrage, die ein wichtiges Argument war, warum die Ukraine Hilfe verdient.

Alle wissen zwar: Die russische Seite schert sich kein bisschen um internationales Recht und eine humane Kriegsführung. Putin tut das Gegenteil im Glauben, er könne die Gegenwehr durch Terror brechen: Seine Soldaten verüben Massaker an Zivilisten und bombardieren Städte, auch solche weit weg von der Front wie Lemberg, die keine militärische Bedeutung haben.

Er missbraucht Staudämme als Waffe und lässt angeblich Minen am Atomkraftwerk Saporischschja anbringen, um mit radioaktiver Verseuchung zu drohen. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hat bei ihrer aktuellen Inspektion bisher keine Minen gefunden, aber auch keinen Zugang zu allen Bereichen des AKW. Und sie bekräftigt, dass es in der Vergangenheit Minen gab. Doch russische Kriegsverbrechen dürfen für den Westen keine Rechtfertigung sein, jedes Mittel gut zu heißen, das Erfolg verspricht.

Allerdings eignet sich der Streit um Streumunition nicht sonderlich gut, um eine kategorische Trennlinie zwischen „Gut“ und „Böse“ zu ziehen. Es gibt kein allgemeines Verbot, sie einzusetzen. Gut die Hälfte der Länder der Erde hat sie geächtet, die knappe andere Hälfte nicht, darunter die USA, die Ukraine und Russland. Kiew hat sie im Krieg längst genutzt, ohne dass es einen Aufschrei gab oder jemand die Frage stellte, ob Deutschland aus der Koalition ausscheren müsse.

Präsident Selenskyj bedrängt Biden, Streubomben zu liefern, weil der Ukraine die eigenen Vorräte ausgehen. Die Munition hilft, russische Verteidigungsgräben zu überwinden. Laut US-Berichten wägt Biden seit Monaten ab, ob er den Export genehmigt. Ein Einwand dabei war die Rücksicht auf die Verbündeten samt der Sorge, das Bündnis zu spalten. Er trifft die Entscheidung also im Wissen um das Für und Wider.

Ein Aufschrei der Empörung beim Nato-Gipfel in Vilnius in der kommenden Woche ist unwahrscheinlich. Denn auch die europäischen Verbündeten kennen das Dilemma und wissen, dass Biden nicht leichtfertig handelt.

Die Debatte in Militärkreisen, warum die Ukraine so schleppend vorankommt, deutet eher in die umgekehrte Richtung: Der Westen liefert auch weiterhin zu spät und zu wenige von den Waffen, die die Ukraine für rasche Erfolge bräuchte.

Ein Beispiel von vielen ist das monatelange Zögern bei Distanzwaffen mit einer Reichweite von 300 statt der bisher 90 Kilometer. Damit könnte Kiew den Nachschub der Russen empfindlich reduzieren. Die Besatzer täten sich schwer, die Verteidigungslinien zu halten, wenn die Munition knapp wird.

Warum das Zögern? Eine Sorge, die Biden und Kanzler Olaf Scholz umtreibt: Sie wollen Putin nicht durch eine rasche Abfolge von Niederlagen und Gebietsverlusten zu einer weiteren Eskalation bei seiner Wahl der Mittel treiben. Die Einen finden das klug, Andere kritisieren es als „Selbstabschreckung des Westens“.

Auch hier lauert ein moralisches Dilemma: Mit seiner Vorsicht zieht der Westen den Krieg in die Länge und verurteilt Soldaten und Zivilisten zum Sterben, die überleben könnten, wenn er die Waffen, die die Ukraine für rasche Erfolg braucht, zügig liefern würde.

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