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Tausende Demonstranten versammelten sich am Montag vor Israels Parlament.

© AFP/HAZEM BADER

Nach monatelangen Protesten: Israels Regierung verschiebt umstrittene Justizreform

Nach großem Widerstand in der Gesellschaft will Premier Netanjahu die Pläne zum Umbau der Justiz vorerst auf Eis legen. Die Proteste gehen indessen weiter.

| Update:

In Israel herrscht der Ausnahmezustand. Die Krise um die geplante Justizreform der Regierung eskaliert inzwischen nicht mehr täglich, sondern nahezu stündlich. Nun legt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu offenbar die umstrittene Gesetzgebung auf Eis. Die Stimmung bleibt dennoch aufgeheizt.

Nachdem Verteidigungsminister Yoav Gallant am Wochenende für den Stopp der Reform plädiert hatte, verkündete Netanjahu kurz darauf seinen Rauswurf. In der Folge strömten Tausende Menschen in Tel Aviv und anderen Städten zu Protesten auf die Straße, die sich am Montag fortsetzten.

Ben-Gurion-Flughafen stellt Flugverkehr ein

In einem beispiellosen Schritt rief der Dachverband der Gewerkschaften zu einem spontanen Generalstreik auf. Etliche Unternehmen, staatliche Behörden, Stadtverwaltungen und Universitäten schlossen sich an, selbst der internationale Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv wurde bestreikt. Auch die israelische Botschaft in Washington blieb offenbar geschlossen.

Staatspräsident Yitzhak Herzog rief die Regierung in einem außergewöhnlichen Plädoyer dazu auf, die Reform zu stoppen. „Unsere Sicherheit, Wirtschaft, Gesellschaft – all das ist bedroht“, sagte er. „Das ganze Volk Israel schaut auf Sie. Das ganze jüdische Volk schaut auf Sie. Die ganze Welt schaut auf Sie.“

Am Montag häuften sich Berichte, dass Netanjahu der Forderung nachkommen wolle. Eine für die Morgenstunden geplante Rede wurde allerdings immer wieder verschoben, offenbar, weil Netanjahu sich mit seinen Ministern beriet.

Der rechtsextreme Minister verkündete die Neuigkeit

Zuletzt war es nicht der Regierungschef, sondern der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der die Neuigkeit verkündete: Er und Netanjahu hätten sich darauf geeinigt, die umstrittene Gesetzgebung bis Ende Juli zu pausieren.

Am Montag häuften sich Berichte, dass Netanjahu tatsächlich einen Stopp der Gesetzgebung verkünden wolle. Seine geplante Rede wurde aber immer wieder verschoben; bis Montagnachmittag meldete er sich lediglich per Twitter zu Wort und rief die Demonstranten, „von der Rechten und von der Linken“, zum Gewaltverzicht auf.

Regierung steht eigentlich hinter Netanjahu

Die Vorsitzenden der beiden ultraorthodoxen Parteien in der Koalition hatten schon vor Tagen angekündigt, Netanjahu zu unterstützen, sollte er die Reformpläne auf Eis legen.

Finanzminister Bezalel Smotrich, Chef der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus, signalisierte am Montag, er werde in einem solchen Fall nicht zurücktreten. Und selbst Justizminister Yariv Levin, der als einer der Architekten der umstrittenen Gesetzgebung gilt, versprach, jede Entscheidung Netanjahus zu respektieren. Allein Ben-Gvir hatte zunächst mit Rücktritt gedroht. Das hätte die Koalition ihre Mehrheit im Parlament gekostet.

Allein der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, drohte mit Rücktritt. Sollte er seine Partei Jüdische Stärke aus der Koalition zurückziehen, wäre die Regierung ihrer Mehrheit beraubt.

Manche Analysten zweifeln allerdings daran, dass es so weit kommt. „Netanjahus Koalition wird wahrscheinlich intakt bleiben“, schrieb der bekannte Journalist Anshell Pfeffer von der linken Zeitung Haaretz. Netanjahus politische „Partner lieben ihre neuen Ministerien und geben sie nicht so schnell auf.“

 „Wir werden nicht schweigen und wir werden nicht ruhen, bis der Staat Israel eine Verfassung hat.“

Yair Lapid, Oppositionsführer

Dass das Land zur Normalität zurückkehrt, ist indes auch bei einem Stopp der Gesetzgebung vorerst nicht zu erwarten. Schließlich gibt es in Israels Gesellschaft auch Kreise, vor allem unter den nationalreligiösen Siedlern und den Ultraorthodoxen, die die geplante Justizreform befürworten, ja sogar einfordern. Zwar stellen sie laut Umfragen nicht die Mehrheit. Doch ihre Stimme hat politisches Gewicht, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben.

Die Reform sieht unter anderem vor, die Macht des Obersten Gerichtshofs zu beschneiden und Vertretern der Regierung mehr Einfluss über die Ernennung von Richtern zu geben. Bislang kann das Gericht Gesetzesinitiativen stoppen, die den israelischen Grundgesetzen zuwiderlaufen. In Zukunft soll eine einfache Parlamentsmehrheit genügen, um eine solche Entscheidung aufzuheben.

Kritiker sehen darin eine Gefahr für die demokratische Gewaltenteilung: Anders als andere Demokratien hat Israel weder eine zweite Kammer im Parlament noch regionale Machtzentren, die das Handeln der Regierung begrenzen können.

Wer für die Reform ist

Unter Nationalreligiösen, die die Wählerbasis der Parteien von Smotrich und Ben-Gvir bilden, ist die Reform deshalb populär, weil der Oberste Gerichtshof in der Vergangenheit einzelne Siedlungsprojekte gestoppt hat.

Die Ultraorthodoxen wiederum zürnen dem Gericht dafür, dass es mit Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz Gesetze ablehnt, die ultraorthodoxe Männer vom Wehrdienst befreien. Beide Gruppen dürften also weiterhin auf eine Reform des Justizsystems drängen.

Für Montagabend riefen rechte Aktivisten zu Gegenprotesten in Jerusalem auf. Zudem planen rechtsradikale Gruppierungen laut israelischen Medien gewaltsame Attacken gegen Reformgegner.

„Wir werden nicht schweigen“: Israels Oppositionsführer Yair Lapid bei einer Kundgebung am Montag.

© REUTERS/AMMAR AWAD

Die Opposition hat derweilen eine neue Forderung erhoben. „Wir werden nicht schweigen und wir werden nicht ruhen, bis der Staat Israel eine Verfassung hat“, rief Oppositionsführer Yair Lapid bei einer Rede vor Demonstranten in Jerusalem.

Auch viele Rechtsexperten sehen darin, wenn nicht die Lösung, dann zumindest eine Linderung der Krise: eine Verfassung, die sowohl das Verhältnis der drei Gewalten als auch die spannungsgeladene Beziehung zwischen Staat und Religion festlegt.

Dass den verschiedenen Lagern gelingen könnte, woran Israels Gründungsväter gescheitert sind, lässt sich in der aktuellen Lage schwer vorstellen. Aber vielleicht liegt gerade in der Krise die Gelegenheit dafür: weil sie allen Beteiligten die Dringlichkeit für eine neue, verbindliche Regelung des Zusammenlebens aufzeigt.

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