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Der französische Präsident Emmanuel Macron irritierte auf seiner China-Reise mit Äußerungen zu Taiwan.

© AFP/Ng Han Guan

Macrons China-Kurs: Frankreichs Distanz zu den USA gefährdet Europas Einigkeit

Frankreichs Präsident unterschätzt die sicherheitspolitische Bedeutung der USA, fordert aber zu Recht ein souveränes Europa. Mehr denn je ist gute Balance gefragt.

Ein Gastbeitrag von Sigmar Gabriel

Gelegentlich lohnt es sich, ein Ereignis noch einmal in Ruhe zu betrachten, nachdem die politischen und medialen Erregungswellen abgeebbt sind. Das gilt insbesondere für die letzte Chinareise des französischen Präsidenten.

Denn sie wirft in beinahe idealtypischer Weise die Frage auf, was Europa zusammenhält oder auseinandertreibt, was uns mit anderen Weltregionen verbindet oder von ihnen trennt.

Die Aufregung entzündete sich vor allem an Emmanuel Macrons Hinweis, es sei nicht selbstverständlich, dass sich Europa in einem möglichen Konflikt um Taiwan zwischen den USA und China auf eine der beiden Seiten schlagen werde.

Europa kann sich nicht einfach raushalten

Europa dürfe sich nicht in etwas hineinziehen lassen, womit es eigentlich nichts zu tun habe. Der Subtext war klar: Macron hält die US-Vorherrschaft im transatlantischen Verhältnis für beendet.

Unabhängig von der Frage, ob die USA wegen Taiwan im Ernstfall wirklich in einen militärischen Konflikt mit der Nuklearmacht China eintreten würden – einfach raushalten könnte Europa sich in einem solchen Fall gewiss nicht. Denn anders als bei Russlands Überfall auf die Ukraine stünde die Welt dann tatsächlich am Rande eines dritten Weltkriegs.

Im Interesse des von Macron geforderten „souveränen Europas“ wäre es deshalb, jetzt mit Ländern wie Australien, Japan oder Südkorea an der Verhinderung eines solchen Desasters zu arbeiten, statt in der Taiwan-Frage über Europas Eigenständigkeit zu dozieren.

Übermut oder fehlender Realitätssinn?

Frankreichs irritierende Distanzierung von den USA kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem Europa ohne die USA Russlands Angriff auf die Ukraine hilflos gegenüberstünde.

Man fragt sich, ob politischer Übermut oder fehlender Realitätssinn Macron die Feder geführt hat – und stelle sich einmal vor, Präsident Joe Biden würde erklären, die USA sollten sich nicht „in Konflikte hineinziehen“ lassen, die „nicht die unseren“ sind! Wo stünde die Ukraine heute, wenn sie sich nur auf Europa hätte „verlassen“ können?

Anders als bei Russlands Überfall auf die Ukraine stünde die Welt dann tatsächlich am Rande eines dritten Weltkriegs.

Sigmar Gabriel

Und ein Blick nach Skandinavien zeigt: Finnland und Schweden hätten ihre militärische Neutralität gewiss nicht wegen der vermeintlichen militärischen Stärke Europas aufgegeben. Sie tun das einzig und allein wegen des nuklearen Schutzschilds der USA.

Deshalb ist es dringend geboten, auf das hinzuwirken, was tatsächlich nötig und auch möglich ist: die Stärkung der militärischen Fähigkeiten Europas – aber innerhalb der Nato.

Frankreichs Distanzierung von den USA, die den Kern der Forderung nach europäischer Souveränität ausmacht, gefährdet das, was Macron vorgibt, vorantreiben zu wollen: Europas Einigkeit.

Denn die mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten setzen zu Recht mehr denn je auf die USA, weil sie bezweifeln, dass gerade Deutsche und Franzosen ihr Leben für die Freiheit der Polen, Litauer, Esten oder Letten riskieren würden – obwohl dies der Beistandspflicht des Artikels 42 des EU-Vertrags entspräche.

Chinas Präsident Xi Jinping und Frankreichs Emmanuel Macron im südchinesischen Guangzhou.

© picture alliance / Xinhua News Agency/Liu Bin

Ost- und Mitteleuropäer verlassen sich lieber auf das gleiche Versprechen des Artikels 5 im Nato-Vertrag, mit den USA als Führungsmacht. Macrons Vorstoß kommt also ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die europäische Sicherheit so sehr von den USA abhängt wie selten zuvor.

Hier hat Macron durchaus recht

Allerdings besitzen wir Europäer etwas, was auch uns geopolitisch Gewicht verleiht: den europäischen Binnenmarkt und das ökonomische Gewicht Europas in der Welt.

Man muss kein Zyniker sein, um vorauszusagen, dass Europas demokratische Werte ohne seine ökonomische Leistungsfähigkeit global schnell an Bedeutung verlieren würden.

Hier hat der französische Präsident durchaus recht: Unsere wirtschaftlichen und politischen Interessen waren und sind nicht immer identisch mit denen der USA.

Aktuell lockt der amerikanische Inflation Reduction Act vor allem den energieintensiven deutschen Mittelstand und die innovationsfreudigsten Teile der europäischen Industrie. Es geht hier um nicht weniger als den drohenden Verlust der „Kronjuwelen“ unserer Volkswirtschaften.

Europas Einfluss in der Welt auszubauen heißt deshalb vor allem, sich auf unsere Stärken zu konzentrieren: Um unsere Leistungsfähigkeit und die Attraktivität des Binnenmarktes zu sichern, braucht Europa beispielsweise wettbewerbsfähige Energiepreise. Dringlich ist auch eine Kapitalmarktunion, um nicht immer mehr in die Abhängigkeit großer US-Banken zu geraten.

Es geht hier um nicht weniger als den drohenden Verlust der ,Kronjuwelen’ unserer Volkswirtschaften.

Sigmar Gabriel

Souveränität bedeutet, seine Verhältnisse, im Innern wie nach außen, selbstbestimmt gestalten zu können. Statt in Kriegszeiten entlang des Taiwankonflikts über Europas Unabhängigkeit von den USA zu philosophieren, wäre es sinnvoller, eine unseren Interessen entsprechende realistische Chinapolitik zu formulieren – jenseits der Alternative zwischen opportunistischer Anpassung und täglichem China-Bashing.

Europa muss die drei großen „Cs“ in seiner China-Politik gut ausbalancieren: Confrontation etwa in Menschenrechtsfragen oder der Sicherheit Taiwans; Competition mit Blick auf wirtschaftlichen Erfolg; Cooperation, wo es um epochale Herausforderungen wie den Kampf gegen die Klimakrise, gegen Hunger und Armut geht.

Eine solche europäische Chinapolitik wäre nicht weit weg von dem, was am Ende auch die USA für realistisch halten.  

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