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Die Erdbebenopfer kämpfen nach der Katastrophe gegen Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot.

© AFP/Rami Al Sayed

Traumatisiert und obdachlos: Wie türkische Erdbebenopfer um ihre Zukunft kämpfen

Hunderttausende im türkischen Katastrophengebiet haben alles verloren und müssen in provisorischen Lagern ausharren. Warum wollen sie ihre Heimat trotzdem nicht verlassen?

Cihan und Bahar haben ein kleines Feuer entzündet, um die Kinder warmzuhalten. Es ist Nacht. Pappbecher mit Nescafe in den Händen, sitzen sie dort mit ihnen um die Flammen, wie bei einem Lagerfeuer.

Ein kleines grünes Kinderzelt verstärkt den Eindruck eines Camping-Ausfluges – dabei hat Cihan es auftreiben müssen, eine Notlösung. Die großen Zelte vom Katastrophenschutz im südostanatolischen Diyarbakir waren schon alle besetzt, als sie ankamen.

Am Rande des Zeltlagers im Sümer-Park in Diyarbakir haben sie das Spielzeugzelt nun für ihn aufgeschlagen, Bahar und die drei Kinder schlafen in einer Sammelunterkunft für Frauen und Kinder gegenüber.

Wir lächeln und sind fröhlich, damit sie sich nicht fürchten müssen

Bahar, Betroffener des Erdbebens über den Umgang mit seinen Kindern.

Bahar trägt eine Baskenmütze auf den hellen Locken, Cihan hat gegen die bittere Kälte seine Kapuze hochgeschlagen. Lächelnd erzählen die beiden, dass sie keine Ahnung haben, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll.

Kein Weg zurück

Stehen sie unter Schock? Nein, sagt Bahar, die Sorglosigkeit täuschten sie wegen der Kinder vor, die vom Beben verstört seien. „Wir lächeln und sind fröhlich, damit sie sich nicht fürchten müssen.“ Was über die nächsten Nächte hinaus aus ihnen werden soll, das wissen sie nicht – ebenso wie hunderttausende weitere Obdachlose im Katastrophengebiet.

Zurück in seine Wohnung werde er jedenfalls nie können, sagt Cihan – nicht einmal, um ein paar Habseligkeiten herauszuholen. Einige Nachbarn hätten es versucht, „aber das ganze Haus wankt, wenn man nur eine Tür aufmacht“.

Alles, was er besaß, ist darin verloren. Alle Bewohner des Zeltlagers sind in einer ähnlichen Lage, genau wie die in den mehr als 250 weiteren Obdachlosen-Lagern im Katastrophengebiet. Das nackte Leben konnten sie retten. Alles andere, was bisher zu diesem Leben gehörte, haben sie verloren: ein Dach über dem Kopf, Möbel, Kleider, Wertsachen.

Flucht aus der Heimat

Manche sind so traumatisiert, dass sie sich nicht vorstellen können, in ihrer Heimat zu bleiben. Die letzte große inländische Bevölkerungsbewegung erlebte die Türkei in den 1990er Jahren, im Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Terrororganisation PKK.

150.000
Menschen haben das Unglücksgebiet bereits verlassen.

Damals flohen Hunderttausende aus ihren zerstörten Dörfern in Städte wie Diyarbakir und weiter bis nach Istanbul und Europa. Nach dem Erdbeben beginnt jetzt eine neue Fluchtwelle aus Südostanatolien. Mehr als 150.000 Menschen haben das Unglücksgebiet nach offiziellen Angaben seitdem bereits verlassen.

Die türkische Regierung will im März mit dem Bau neuer Wohnhäuser für obdachlose Erdbebenopfer beginnen. 

© dpa/Khalil Hamra

Tausende reisen per Fernbus oder Flugzeug zu Verwandten oder Bekannten in anderen Landesteilen. Die Fluggesellschaft Turkish Airlines fliegt Erdbebenopfer kostenlos aus dem Katastrophengebiet aus. Die Regierung hat zudem Studentenwohnheime im ganzen Land für Menschen aus dem Katastrophengebiet geöffnet – zumindest bis zum Herbst sollen sie dort leben können.

Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit

Manche suchen sich eine neue Bleibe in Provinzen, die an das Katastrophengebiet angrenzen. Sie wollen wieder in die Heimat zurückkehren, sobald es die Umstände erlauben: Die türkische Regierung will schon im März mit dem Bau neuer Wohnhäuser für obdachlose Erdbebenopfer beginnen.

 Ich gar nicht daran denken, einen Fuß in ein Gebäude zu setzen – da fängt für mich gleich alles an zu schwanken.

Mahsun, Betroffener des Erdbebens.

Vorerst steigen in Städten wie Mersin am westlichen Rand des Unglücksgebietes die Mieten um bis zu 50 Prozent, wie Makler aus der Gegend sagen. Wegen der hohen Inflation waren die Wohnpreise für viele Türken schon vor dem Beben kaum noch zu bezahlen. Jetzt drohen Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, denn in Mersin und anderen Gegenden gibt es kaum Jobs für die Flüchtlinge aus dem Unglücksgebiet.

Flucht kommt aber nicht für jeden in Frage. In Diyarbakir sind manche Erdbebenopfer noch wie betäubt von dem, was sie erlebt haben. An die Zukunft sei überhaupt nicht zu denken, sagt der 24-jährige Mahsun, der mit Verwandten in einem großen Zelt im Lager des Sümer-Parks untergebracht ist.

„Meine Chefs rufen mich dauernd an, ich solle zur Arbeit zurückkommen“, erzählt der junge Mann, der bis zum Beben als Kellner in einer Patisserie arbeitete. „Ich glaube, die verstehen nicht recht. Ich habe ja nicht mal mehr die Kellnerjacke, die liegt in der Wohnung. Und vor allem kann ich gar nicht daran denken, einen Fuß in ein Gebäude zu setzen – da fängt für mich gleich alles an zu schwanken.“

Im Lager wissen viele Menschen nicht, wie es weitergehen soll.

© Reuters/Suhaib Salem

Das Leben im Lager ist hart. Die Temperaturen sinken in Diyarbakir nachts auf fünf Grad unter Null, die sich im scharfen Wind noch kälter anfühlen. In den Zelten liegen dünne Teppiche auf dem Boden ausgerollt, doch darunter ist die Erde hartgefroren.

Perspektivlosigkeit im Lager

Bei der Essensausgabe warten sie in langen Schlangen geduldig auf ihre Wegwerf-Tabletts mit Reis, Eintopf, einem Stück Brot und einer Dose Ayran, dem türkischen Joghurtgetränk.

Manche Frauen stehen mit nackten Füßen in Badeschlappen an – was sie gerade am Leib hatten, als sie beim Beben auf die Straße stürzten. Viele tragen Babys oder Kleinkinder auf dem Arm, und überall wuseln Kinder herum, denn Familien sind in dieser Gegend groß.

Klagen will kaum einer, im Gegenteil: Es sei großartig, was hier für sie geleistet werde, lobt der frühere Kellner Mahsun: „Wir bekommen nicht nur dreimal am Tag warm zu essen, sondern viermal, und an alles ist gedacht.“

Fast alle seine Verwandten – Onkel, Tanten, Neffen, Nichten und Cousins mit ihren Familien – sind hier im Lager, insgesamt acht Haushalte, deren Wohnungen alle zerstört sind. Niemand in der Großfamilie weiß, wie es weitergehen soll.

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