zum Hauptinhalt
Ein ukrainischer Soldat im Donbass.

© REUTERS/stringer

Ukraine-Invasion Tag 474: Kiews Gegenoffensive – „kaum ein anderes Land hat so etwas erfolgreich durchgeführt“

Vorstöße mit ersten Erfolgen + Kiew will mehr westliche Kampfpanzer + Putin trauert um Berlusconi. Der Überblick am Abend.

Die ukrainische Gegenoffensive, die seit vergangener Woche läuft, hat erste Erfolge erzielt – es gibt aber auch Rückschläge. Hier ein kurzer Überblick:

Kämpfe in Donezk: Hier konnte die Ukraine in den letzten Tagen die größten Fortschritte machen. Rund zehn Kilometer sind die ukrainischen Truppen von Welyka Nowosilka aus in russisch besetztes Gebiet vorgestoßen. Aktuell sind zwei kleinere Zwillingsstädte umkämpft. Sind die erobert, sind die russischen Hauptdefensivlinien in dieser Gegend nur noch rund zehn Kilometer von der Front entfernt. Ein russischer Gegenstoß, der Entlastung bringen sollte, wurde am Sonntag wohl abgewehrt. Russische Kriegsblogger beschreiben die Situation als ernst.

Auch in Bachmut kommen die ukrainischen Befreier weiter voran. In der Nacht habe es rund 25 Gefechte mit russischen Truppen in der Nähe von Bachmut im Osten gegeben, teilte der ukrainische Generalstab am Montagmorgen mit. Erneut gab es dabei Gebietsgewinne. Wie ein Soldat, der bei Bachmut im Einsatz ist, dem britischen „Economist“ berichtet (Quelle hier), sind die Truppen zuversichtlich, Bachmut in absehbarer Zeit einzuschließen. Schon in einer Woche sollen die Anhöhen um die Stadt erobert sein, was die russischen Truppen in Bachmut in eine prekäre Situation bringt. Von den Anhöhen können sowohl die Stadt als auch die Nachschubrouten unter Feuer genommen werden. 

Wo es für die Ukrainer derzeit wohl am schlechtesten läuft, ist im westlichsten Teil der Front, südlich von Saporischschja. Dort hatte Kiew in der Nacht zu Donnerstag auch mit deutschen Leopard-Panzern angegriffen. Laut dem ukrainischen Militär gab es dort erhebliche eigene Verluste an Soldaten und Gerät. Die Bilder von ausgebrannten US-Schützenpanzern und einem havarierten Leopard-Panzer sorgten am Wochenende für Schlagzeilen. Die in dieser Gegend stark ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen halten dort also bislang. Zusätzlich macht der Einsatz der russischen Luftwaffe und von Drohnen den Ukrainern zu schaffen.

Zwei Einschätzungen sind zur Beurteilung der Situation aktuell aber wichtig: Die Ukraine hat wohl noch nicht entschieden, wo sie die Hauptkräfte für die Offensive einsetzt. Das berichtet der britische „Economist“ am Sonntag unter Berufung auf ukrainische Militärkreise. Laut dem Ex-Generalleutnant und Ex-Befehlshaber der US-Truppen in Europa, Ben Hodges, wären bei einem entsprechenden Vorstoß zwischen 500 und 750 gepanzerte Fahrzeuge involviert. Anhand von Videos zu urteilen, sind bisher bei den Angriffen jeweils nur rund ein Dutzend gepanzerte Fahrzeuge beteiligt. Bisher sind kleinere Bataillone im Einsatz, keine großen Brigaden. 

Und aus militärhistorischer Perspektive: „Die Ukraine versucht mit ihrer Durchbruchsoffensive etwas, das nach dem Zweiten Weltkrieg kaum ein anderes Land außer vielleicht die USA und Israel erfolgreich durchgeführt haben“, schreibt der Kriegsforscher Phillips O’Brien in seinem wöchentlichen Newsletter. Diese zwei Staaten hatten allerdings, gibt er zu bedenken, die Lufthoheit im Kampf. „Was die Ukrainer versuchen, ist extrem schwer.“ Sein Fazit: Bis die ukrainischen Truppen wirklich einen Durchbruch schaffen, könnte es noch längere Zeit dauern.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Russischer Angriff hinterlässt Fragen zur Sicherheit ukrainischer Panzerkolonnen: Vier Leopard-Panzer soll die Ukraine in den vergangenen Tagen verloren haben. Der Ruf nach weiteren Lieferungen wird laut. Mehr hier.
  • „Korrekte Führung“: Nordkoreas Machthaber Kim will die Zusammenarbeit mit Russland weiter ausbauen. Für Kreml-Chef Putin ist er voll des Lobes. Mehr hier.
  • Moskau will Befehlsgewalt über Privatarmeen – Prigoschin weigert sich: Es gebe inzwischen mehr als 40 Freiwilligenverbände, deren rechtlicher Status so abgesichert werden solle, hieß es. Prigoschin kontert und greift erneut Verteidigungsminister Schoigu an. Mehr hier.
  • Sergej Schoigu stellt sich immer mehr als zentraler Entscheider und Stratege dar – und lässt falsche Informationen verbreiten. Das behauptet der britische Geheimdienst über den russischen Verteidigungsminister. Mehr hier.
  • Investitionen in Nuklear-Arsenale steigen: Seit Jahrzehnten ist die weltweite Zahl der Kernwaffen kontinuierlich gesunken. Das Problem sehen Friedensforscher vor allem in den Sprengköpfen, die für den Einsatz bestimmt sind. Mehr hier
  • In Russland werden immer weniger Kinder geboren, die Bevölkerungsentwicklung ist stark rückläufig. Das geht aus neuen Daten der russischen Statistikbehörde Rosstat hervor, die das digitale Medienhaus Table.Media ausgewertet hat. Demnach wurden im Zeitraum Januar bis Ende April dieses Jahres 3,1 Prozent weniger Kinder geboren als im Vergleichszeitraum 2022 – 407.188 gegenüber 420.073 Kindern. Im April 2023 waren es sogar 3,6 Prozent weniger, oder 3.204 Kinder pro Tag. Mehr in unserem Liveblog. 
  • Nato-Kampfjets sind litauischen Angaben zufolge zu mehreren Einsätzen aufgestiegen, um ungekennzeichnete russische Militärflugzeuge über der Ostsee zu identifizieren. Insgesamt seien in der vergangenen Woche 15 Alarmstarts absolviert worden, teilte das Verteidigungsministerium in Vilnius am Montag mit.
  • Der Kreml trauert um den ehemaligen italienischen Premierminister Silvio Berlusconi. „Für mich war Silvio ein teurer Mensch, ein echter Freund“, schrieb Russlands Präsident Wladimir Putin in seinem Beileidstelegramm an Italiens Präsident Sergio Mattarella am Montag. 
  • Anlässlich des russischen Nationalfeiertags appelliert Präsident Wladimir Putin an den patriotischen Stolz seiner Landsleute in einer „schwierigen Zeit“. In seiner Rede zum Tag Russlands bei einer Zeremonie im Kreml äußert sich Putin allerdings nicht direkt zu den jüngsten Entwicklungen im Krieg in der Ukraine, wo die ukrainischen Streitkräfte eine lang erwartete Gegenoffensive gestartet und in den vergangenen Tagen mehrere Ortschaften in der östlichen Region Donezk zurückerobert haben. 
  • Mehrere Tage nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist der Wasserstand des Dnipro im überflutetem südukrainischen Kriegsgebiet Cherson nach Behördenangaben weiter gesunken. Demnach lag er am Montagmorgen in der Gebietshauptstadt Cherson bei rund 3,29 Meter, wie der Chef der dortigen Militärverwaltung Oleksandr Prokudin auf Telegram berichtete. 
  • Das Kernkraftwerk Saporischschja hat nach ukrainischen Angaben trotz der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der vergangenen Woche noch genügend Kühlwasser. Der Wasserstand in den Becken, die zur Kühlung der Reaktoren in Europas größtem AKW verwendet werden, sei trotz des sinkenden Wasserspiegels des nahe gelegenen Kachowkaer Stausees stabil und ausreichend, teilt der ukrainische Umweltminister mit.
  • Die russische Seite versucht nach Einschätzung westlicher Experten, Erfolge der ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Offensive gegen die russische Armee herunterzuspielen. Das schrieb das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) in seinem jüngsten Lagebericht am Sonntag (Ortszeit) in Washington. So würden erfolgreiche Vorstöße und Gebietsgewinne der Ukrainer im Süden des Landes in russischen Quellen mit der Darstellung kleingeredet, es handele sich um „Grauzonen“, die ohnehin noch umkämpft oder nicht vollständig unter der Kontrolle Russlands gewesen seien.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false