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Ukrainische Soldaten während eines Kampfeinsatzes an der Frontlinie.

© dpa/Roman Chop

Kiews großer Befreiungsschlag : Jetzt beginnen die Wochen der Wahrheit – auch für den Westen

Die ukrainische Gegenoffensive hat begonnen und die entscheidenden Schlachten dieses Jahres eingeläutet. Ist am Ende doch Wladimir Putin der Sieger?

Ein Kommentar von Benjamin Reuter

Nach Monaten des militärischen Patts in der Ukraine war die vergangene Woche eine der ereignisreichsten. In der Nacht zu Dienstag überfluteten durch den Bruch des Kachowka-Staudamms große Gebiete in der Region Cherson. In der Nacht zu Donnerstag dann begann die lang erwartete ukrainische Gegenoffensive.

Dass sich beides fast zeitgleich ereignete, ist vielleicht kein Zufall. Durch die Überschwemmung hat Russland der ukrainischen Armee vorerst jedes Überqueren des Flusses Dnjepr unmöglich gemacht und damit eine Flanke für Angriffe geschlossen.

Bei der Suche nach Gründen, die Moskau für die Dammsprengung haben könnte, ist das vielleicht der überzeugendste. Kiew sprach kurz nach dem Ereignis davon, die Pläne für seine Gegenoffensive an die Situation anzupassen.

Wie die Pläne ohne den Dammbruch ausgesehen hätten, weiß nur der innerste Zirkel um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Sicher ist, dass seit dieser Woche an mindestens drei Punkten der fast 1000 Kilometer langen Front ukrainische Soldaten auch mit westlichem Gerät auf russische Stellungen vorstoßen. Die Bedeutung dieser Offensive für den Krieg kann kaum überschätzt werden: Für die Ukraine geht es um alles, es sind Wochen der Wahrheit.

Warum weiterkämpfen, weiter unterstützen, wenn es zu nichts führt?

Schaffen es die Befreier nicht, größere Gebiete zurückzuerobern, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass der Krieg einfriert. Die aktuelle Frontlinie könnte zur nicht anerkannten, aber faktischen Staatsgrenze der Ukraine werden. Denn im Westen könnten nach einem Misserfolg die Rufe nach einem Waffenstillstand lauter werden; warum weiterkämpfen, weiter unterstützen, wenn es zu nichts führt? In diesem Fall würde Kiew schlicht das Material fehlen, um erneut in die Offensive zu gehen.

Ein Anwohner löscht ein Feuer in einem Haus, das nach russischem Beschuss in Cherson, Ukraine, beschädigt wurde.

© dpa/Evgeniy Maloletka

Zwar hätte in diesem Szenario der russische Präsident Wladimir Putin sein Ziel verfehlt, die gesamte Ukraine oder zumindest die gesamte Ostukraine zu erobern. Dennoch bliebe rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes unter seiner Kontrolle. Es wäre ein schwelender Konflikt, den er eskalieren könnte, sobald seine Armee wieder die Kraft dafür hat. Angesichts des für Moskauer Ansprüche peinlichen Kriegsverlaufs wäre es am Ende ein großer Erfolg. Und eine schmerzliche Niederlage für den Westen.

Auch für Washington, Berlin, Paris und London und all die anderen Unterstützer sind es deshalb Wochen der Wahrheit. Zeigt sich doch jetzt, ob die von Kiew unnachgiebig eingeworbenen Waffenhilfen ausreichen.

Nach mehr als einem Jahr Krieg hat die Ukraine zwar die allermeisten der Waffensysteme erhalten oder zugesagt bekommen, die Selenskyj gefordert hat: Kampfpanzer, Luftabwehrsysteme, westliche Kampfjets und Marschflugkörper mit mittlerer Reichweite. Eine Ausnahme bleiben die international umstrittenen Streubomben.

Doch die Frage bleibt, ob die Waffen nicht zu spät kamen und in zu geringer Stückzahl. Wären die Erfolgschancen Kiews nicht größer, hätten sie früher angreifen können? Russlands Abwehrbollwerk im Süden der Ukraine war vor einigen Monaten noch deutlich lückenhafter.

Die Damm-Katastrophe zeigt, was droht, wenn Putin Erfolg hat

Schon die ersten Stunden der ukrainischen Offensive haben gezeigt, wie verlustreich die Kämpfe werden. In den von Russen verminten Feldern nahe Saporischschja gingen mehr als ein Dutzend US-Schützenpanzer und deutsche Leopard-Kampfpanzer verloren. Das verstärkt den Eindruck, dass die Langsamkeit der Entscheidungsprozesse nicht nur im Kanzleramt in Berlin noch immer im krassen Gegensatz zur Realität auf dem Schlachtfeld steht. Dabei ist die Zeit des Zauderns spätestens jetzt vorbei. Der Westen sollte zusagen, alle Verluste an Gerät schnell zu ersetzen. Es wäre auch ein starkes Signal in Richtung Moskau.

Denn was droht, wenn die Ukraine – und damit auch ihre westlichen Unterstützer – scheitern, zeigte sich nach dem Dammbruch. Während der Evakuierungen beschoss die russische Artillerie ukrainisches Gebiet und Treffpunkte für die in Sicherheit zu bringenden Zivilisten. Ein erneuter Beleg dafür, dass Moskau bei der Durchsetzung seiner Ziele ohne jedes Gewissen und Moral ist.

Und wenn die ukrainische Offensive tatsächlich erfolglos bliebe? Auch dann muss für den Westen klar sein: Um dauerhaft neuen russischen Aggression zu widerstehen, wird Kiew viele weitere Jahre militärische Unterstützung brauchen. Nur dann kann aus einem temporären Erfolg Putins ein Pyrrhussieg werden.

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