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Der Schriftsteller Paul Auster. Er wurde 1947 in Newark, New Jersey geboren.

© Edu Bayer

Das schwer therapierbare Phantommensch-Syndrom: Paul Austers Roman „Baumgartner“

Trotz Krebsdiagnose ist das letzte Kapitel noch lange nicht aufgeschlagen worden: Der New Yorker Schriftsteller erzählt in seinem neuen Roman vom Altern, der ewigen Liebe und der Trauer.

Im März dieses Jahres gab die Schriftstellerin Siri Hustvedt bekannt, dass ihr Mann Paul Auster an Krebs erkrankt sei, er in einer Krebsklinik behandelt werde und sie beide sich in „Krebsland“ befänden. Kaum war diese Nachricht in der Welt, kündigten wiederum Austers Verlage an, dass im November ein neuer Roman von dem US-Schriftsteller erscheine. Sein letzter Roman also? Sein Vermächtnis, gar ein Requiem noch zu Lebzeiten?

Nach der Lektüre von „Baumgartner“, wie der Roman heißt, darf man beruhigt sein. Das Ende deutet darauf hin, dass da noch was kommt, Paul Auster womöglich guter Dinge und bei gutem Befinden ist. Sein Held hat gerade einen Verkehrsunfall verursacht und ist mit seinem Auto gegen einen Baum gekracht. Er hatte einem Reh auszuweichen versucht, dem zweiten Reh hintereinander im Übrigen, und nun ist er auf der Suche nach Hilfe, letztendlich fast unverletzt.

Als er das erste Haus erreicht und klingelt, „beginnt das letzte Kapitel der Saga von S.T. Baumgartner“, so lautet der letzte Satz dieses Romans. An diesem Kapitel dürfte Paul Auster weiterhin schreiben.

Über das Rätsel des Steuers

Man kann das hier ohne weiteres verraten, so offen wie dieses Romanende ist, so originell wie Auster es mit der jüngsten Buchveröffentlichung seines Helden verknüpft hat: einem Buch mit dem Titel „Rätsel des Steuers“. Es handelt vom individuellen und kollektiven menschlichen Leben und beleuchtet dabei insbesondere die Rolle, die Autos im Leben der Menschen spielen.

Der Titelheld ist also ein Schreibender, 72 Jahre alt, ehemals Phänomenologie-Professor, „seit 34 Jahren beliebtes Mitglied der Princeton-Familie“, jetzt emeritiert, verfasst aber weiterhin philosophische Bücher. Baumgartner lebt allein, seine Frau Anna ist vor gut einem Jahrzehnt bei einem Badeunfall gestorben.

Austers Roman beginnt damit, dass Baumgartner sich eines Tages durch einen Sturz im Keller seines Hauses seines Anna-Kokons bewusst wird und ihn danach abzustreifen versucht. Er gedenkt, sich an ein Buch über den Phantomschmerz zu setzen. Genauer: über das Phantomschmerz-Syndrom, „das er, je deutlicher ihm die metaphorischen Übereinstimmungen werden, in Phantommensch-Syndrom umbenannt hat.“

Baumgartner erzählt dann in Folge das Leben seines Phantommenschen, das von Anna Blume. Wie sie sich kennengelernt haben, was sie verbunden hat, und auch von Annes Kindheit und Jugend. Denn, man kennt das von Auster, auch in diesem Roman gibt es eigenständige Teile: zwei autobiografische Essays von Baumgartner und zwei von Anna über ihren ersten Jugendfreund und über ihre erste Zeit mit Baumgartner, überschrieben mit „Frankie Boyle“ und „Spontane Selbstentzündung“, dazu ein Gedicht von ihr, „Lexikon“ betitelt.

Anna ist hauptberuflich Übersetzerin und Lektorin gewesen, aber auch Lyrikerin, überhaupt Schriftstellerin. Nur wurde von ihr bis auf einen ansprechenden, gerade in der kleinen Lyrikszene sehr wohlwollend aufgenommenen Band mit einer Auswahl ihrer Gedichte kein Buch veröffentlicht. Daran möchte Baumgartner schon bald etwas ändern.

Zumal das von ihm ewig nicht betretene Zimmer von Anna immer noch so aussieht wie in den Tagen vor ihrem Tod, zum Beispiel mit der Schreibmaschine auf ihrem Arbeitstisch. Es ist eine „Smith-Corona-Reisemaschine“, die sie von ihren Eltern zum 15. Geburtstag bekommen hatte und von der sie sich, Digitalisierung hin oder her, nie trennen wollte.

Autobiografische Details

Nun ist diese Schreibmaschine vielleicht nicht die Olympia-Reisemaschine, die sich Auster selbst 1974 gekauft und über die er Anfang des neuen Jahrtausends ein ganzes Buch geschrieben hat. Trotzdem ploppen in „Baumgartner“ haufenweise autobiografische Details aus Paul Austers eigenem Leben auf, so wie in vielen seiner Romane. Wie Anna Blume begann auch er mit dem Schreiben von Gedichten, bevor er zum Romanschriftsteller wurde.

In die Person von Anne hat er einiges aus dem eigenen Leben einfließen lassen, so wie natürlich auch in die Baumgartner-Figur. Dabei wirkt es, als würden sich die autobiografischen Anteile in seiner männlichen und weiblichen Hauptfigur immer mal wieder überblenden.

Später tut es das noch einmal, als Baumgartner die Geschichte seiner Eltern und seiner Herkunft erzählt, vielleicht die Höhepunkte dieses Romans, so zärtlich Baumgartner sich hier ihrer erinnert. Die Mutter trägt den Familiennamen Auster, und sie ist wie Baumgartners Vater Jüdin. Der Vater von Ruth Auster wiederum hieß Harry und war „aus einer galizischen Kleinstadt im östlichsten Zipfel Österreich-Ungarn nach Amerika ausgewandert und dort in Brooklyn gelandet.“

Jüdische Identität

Auster variiert hier die Geschichte der eigenen Herkunft als Kind jüdischer Eltern, deren Eltern wiederum aus Galizien stammten. Aus Iwano-Frankiswk in der Ukraine kamen die Eltern seines Vaters, aus Polen und der Ukraine die seiner Mutter (in „Baumgartner“ ist es genau umgekehrt). „Deine Eltern standen dazu“, hat Auster vor Jahren in seinem autobiografischen „Bericht aus dem Inneren“ geschrieben, „und stellten ihre Identität nie infrage, aber was Religion und Herkunft anbetrifft, hatten sie dir in deiner frühen Herkunft nie viel zu bieten. Sie waren schlicht Amerikaner, die zufällig Juden waren, vollständig assimiliert nach den Kraftanstrengungen ihrer eingewanderten Eltern, (…).“

Auch an die beiden entscheidenden Liebesbeziehungen in Austers Leben muss man bei Baumgartner und Anna Blume denken, an die zu der Schriftstellerin Lydia Davis zum einen, seine Ehefrau bis zum Jahr 1979, die zu Siri Hustvedt zum anderen, seiner Frau seit 1981.

Im Grunde spielen diese autofiktionalen Verweise aber keine größere Rolle: „Baumgartner“ ist vor allem das Porträt eines alten, selbstironischen Mannes und das Porträt seiner geliebten Frau – und wie er, trotz eines vergeblichen, etwas blitzartig kommenden Ausbruchsversuchs mit einer gewissen Judith, aufs Innigste mit ihr verbunden bleibt, bis zum Schluss dieses Romans, da eine Studentin das Gesamtwerk von Anna Blume erkunden möchte.

Im Vergleich zu Austers Opus Magnum „4321“ ist „Baumgartner“ naturgemäß ein kleines Buch, aber auch ein etwas schwächeres, so rührend teilweise manche Passage sein mag, so humorvoll tragisch Austers Baumgartner durch sein Restleben stapft (in dem Anzeichen nachlassender Vitalität kaum zu spüren sind). 

Auster erweist sich mit „Baumgartner“ einmal mehr als enorm routinierter Schriftsteller, der auf Rätselspiele wie in seinen früheren Zeiten (fast) völlig verzichtet, vielleicht eine Idee zu offensichtlich dadaistisch mit Namen spielt (Blume, Baumgartner, Boom Garden, Auster), und eine glasklare, sofort einnehmende Prosa schreibt.

Nur ist trotz der Thematik der Endlichkeit allen irdischen Daseins, des Altwerdens, der Erinnerung und der Liebe oft nicht so klar, wohin der Roman genau will. Auch die Geschichte, die Baumgartner auf den Spuren seines Großvaters in Iwano-Frankiwsk erzählt, hier in Form eines autobiografischen Textes, wirkt eher unmotiviert, fast journalistisch, trotz des Wölfe-Motivs. Sie basiert auf einem Ukraine-Besuch 2017, der Roman spielt im Übrigen 2018 und 2019, und einmal ist auch von dem Kriegsgeschehen im Osten der Ukraine die Rede.

Viel Kleinklein, so macht es manchmal den Eindruck. Das aber stört kaum, dafür schreibt Auster einfach zu geschmeidig. Seine Aufladung letztendlich hat dieser Roman vor allem durch die Krebsdiagnose Austers erfahren, und nur gut, dass es mutmaßlich eine Fortsetzung geben wird.         

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