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Rue Cases-Nègres | Sugar Cane Alley
Land: FRA 1983
Regie: Euzhan Palcy

© René Marran/JMJ Internatonal Pictures

Die Berlinale-Retrospektive: Rebellen und solche, die es werden wollen

Die Retrospektive zeigt Coming-of-Age-Filme, unter dem Motto „Young at Heart“. Ausgesucht wurden die 28 Beiträge von Filmschaffenden. Ein Überblick.

Die „Sugar Cane Alley“, Zuckerrohrgasse, ist bloß ein ungepflasterter Trampelpfad. Er führt an den Holzhütten der schwarzen Arbeiterinnen und Arbeiter entlang, die auf den dahinterliegenden Zuckerrohrfeldern schuften. Euzhan Palcys gleichnamiger Film – im französischen Original heißt er „La Rue Cases-Nègres“ – spielt 1930 in einem abgelegenen Dorf auf der Karibikinsel Martinique, in dem jeder, der dort aufwächst, eigentlich keine Chance auf eine bessere Zukunft hat. Weil er die falsche Hautfarbe hat, und weil die Armut von Generation zu Generation weitervererbt wird. 

Der Waisenjunge José (Garry Cadenat), der bei seiner Großmutter (Darling Légitimus) lebt, ist der erste aus seiner Familie, der Lesen und Schreiben gelernt hat. Wenn sie abends „müde wie ein Maultier“ von der Plantage zurückkehrt, liest er ihr die Werbeanzeigen aus einer Zeitung vor. Im Dorfältesten Médouze hat José einen Ersatzvater gefunden, der ihm Geschichten aus Afrika erzählt, aus der Zeit, als dort die Weißen landeten und Menschen jagten, um sie „über das große Wasser“ zu verschleppen.

Zwar ist die Sklaverei abgeschafft, doch die Arbeitsbedingungen, unter denen die Nachfahren das Zuckerrohr für die weißen Großgrundbesitzer schneiden, sind noch immer genauso ausbeuterisch. Die Großmutter hat geschworen, dass José niemals auf den Zuckerrohrfeldern enden soll und ermöglicht ihm mit ihren Ersparnissen den Schulbesuch. Als er mit einem Stipendium fürs Gymnasium auf einem Schiff in die Hauptstadt Fort-de-France aufbricht, mischt sich Wehmut in die Euphorie, weil er die Welt seiner Herkunft verlassen muss.  .

„Sugar Cane Alley“ (1983)“, der von der schreienden Ungerechtigkeit kolonialistischer Verhältnisse erzählt, gehört zu den herausragenden Werken der Berlinale-Retrospektive, die unter dem Motto „Young at Heart“ dem Coming-of-Age-Film gewidmet ist. Die Regisseurin Euzhan Palcy, die selbst aus Martinique stammt, war für ihren Debütfilm 1984 unter anderem mit einem silbernen Löwen in Venedig ausgezeichnet worden.

Nach der Science-Fiction-Retro von 2017 ist es die zweite Filmreihe des Festivals, die sich nicht mit dem Werk von Schauspielerinnen oder Regisseuren beschäftigt, sondern mit einem Genre. Und erstmals wurden die 28 Filme statt von einem Kuratorenteam von Filmschaffenden ausgewählt, deren Biografien mit der Berlinale verknüpft sind. „Sugar Cane Alley“ hat die afroamerikanische Regisseurin Ava DuVernay ausgesucht.

Aber ist Coming of age überhaupt ein eigenes Filmgenre? „Es ist eher ein Thema, das sich als Leitmotiv durch verschiedene Genres zieht“, sagt Programmkoordinatorin Annika Haupts. „Es gibt Coming-of-Age-Geschichten, die sich im Horrorfilm abspielen, die zu einer Komödie werden oder – das ist wohl der häufigste Fall – zum Drama.“ Was verbindet die Filme, außer dass ihre Protagonisten jung sind?

Eine Definition fällt schwer, Haupts formuliert es so: Sie zeigen „Lebenswelten des Erwachsenwerdens“. Nach zwei Jahren der Corona-Einschränkungen, in denen vor allem über Ängste und Probleme von Kindern und Jugendlichen berichtet wurde, will die Retrospektive auch ein politisches Statement setzen: Das Jungsein ist ein Zustand, der gefeiert werden darf.

Zu den jüngsten Helden der Reihe zählt der siebenjährige Joey (Richie Andrusco), der im Ausreißer-Film „Little Fugative“ (1953) einen Tag im Vergnügungspark von Coney Island verbringt, beinahe dokumentarisch begleitet von einer Handkamera. Der frühe US-Independentfilm, den Wes Anderson ausgesucht hat, wurde von den Akteuren der Nouvelle Vague für seinen Freiluft-Realismus bewundert.

Ähnlich konsequent aus der Kinderperspektive gedreht ist „Grazuolé“ („The Beauty“, 1969) des litauischen Regisseurs Arunas Zebriunas, in dem eine Sechsjährige (Inga Mickytè) durch ihr Viertel in Vilnius stromert und sich mit einem Holocaust-Überlebenden anfreundet.

Der berühmteste Coming-of-Age-Film: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean.

© 2022 Warner Bros. Entertainment Inc

Natürlich fehlt es nicht an Klassikern des Rebellen-Kinos, vom Halbstarken-Drama „Rebel Without a Cause“ mit James Dean (1955) über Francis Ford Coppolas Jugendbandenfilm „Rumble Fish“ (1983) bis zum französischen Ghettokrimi „De bruit et de fureur“ („Sound and Fury“, 1988), der in der Pariser Banlieue spielt.

Aber es gibt auch viele unbekanntere Filme zu entdecken, etwa den iranischen „Kiseye Berendj“ („Bag of Rice“, 1996), in dem ein vierjähriges Mädchen und eine alte Frau beim Versuch, in Teheran einen Sack Reis zu kaufen, einige Abenteuer erleben. Tilda Swinton, die ihn nominiert hat, schwärmt: „Dieses Werk erzeugt Hoffnung, Glaube und Liebe – und was kann Kino mehr wollen?“.

Was aber hat die Komödie „Groundhog Day“ („Und täglich grüßt das Mumeltier“, 1993), den Nora Fingscheidt aussuchte, mit dem Groß- und Starkwerden zu tun? Da spielt Bill Murray einen bereits deutlich erwachsenen Wetteransager, der jeden Morgen im Hotelbett aufwacht, um immer wieder denselben Tag zu durchleben. Vielleicht ist das die Coming-of-Age-Erfahrung schlechthin: gefangen zu sein in der Langeweile des Immergleichen.

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