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Chiaki Soma / ©NÓI CREW

© NÓI CREW

Die neue Festivalchefin bei „Theater der Welt“ : Lob des Träumens

Die Japanerin Chiaki Soma ist die erste außereuropäische Programmdirektorin des Festivals „Theater der Welt“. Mit den Stücken, die sie zeigt, will sie stereotype Denkweisen überwinden. Eine Begegnung

Als vergangenes Wochenende das Festival „Theater der Welt“ in Offenbach und Frankfurt am Main eröffnet wurde, saß Chiaki Soma mit akuten Bauschmerzen im Parkett. Man könnte auch von einer Extremform des Lampenfiebers sprechen. „Ich war mir total unsicher, wie das Programm hier funktionieren würde“, erzählt die Kuratorin im Zoom-Gespräch mit sympathisch entwaffnender Offenheit.

Abgesehen von den ohnehin hohen Erwartungen an das Bühnenevent, das 1981 vom deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) gegründet wurde und seither im Dreijahresrhythmus in wechselnden Städten stattfindet, verband sich mit Somas Auswahl eine besondere Premiere.

Die gebürtige Japanerin ist die erste außereuropäische Programmdirektorin der kompletten Festivalgeschichte. Und von den „neuen Perspektiven“, die sie bei „Theater der Welt“ auf den globalen Bühnenbetrieb zeigen möchte, waren in der Eröffnungspremiere – dem schrägen Musical „Die Bakchen. Holstein-Milchkühe“ – bereits ziemlich viele enthalten.

Ausgehend von den „Bakchen“ des Euripides – jener antiken Story über Frauen, die vom Rausch-Gott Dionysos in Ekstase versetzt werden – entwirft die junge japanische Dramatikerin und Regisseurin Satoko Ichihara einen sehr gegenwärtigen und gewitzten Plot über Weiblichkeitsklischees. Und weibliches Realleben.

In schmissigen Songs wird überdies für die friedliche Koexistenz von Mensch und Tier plädiert, moralinsäurefrei die Ausbeutung der Natur durch den Homo sapiens angeklagt, und ein Zwitterwesen aus Mensch und Milchkuh, das die Protagonistin – eine ehemalige Nutztier-Besamerin – einst zum Leben erweckt hatte, ist nicht die einzige Erscheinung, die hier lustvoll althergebrachte Kategorien und Grenzziehungen infrage stellt.

Je länger diese höchst gegenwärtigen Dionysien auf der Bühne im Offenbacher Capitol liefen, desto schneller verflüchtigten sich bei Chiaki Soma im Parkett übrigens die Bauchschmerzen: Der Abend kam gut an.

Mit Labels à la „außereuropäische Perspektive“ kann die Kuratorin indes eher wenig anfangen. Schließlich sei man schon in der kleinstmöglichen Entität, als Individuum, ziemlich pluralistisch und multiperspektivisch unterwegs, findet sie.

Östliche Einflüsse, westliche Einflüsse, feminine, maskuline – müßig, das alles auseinanderzudividieren, sagt Chiaki Soma und lacht: „Es gibt auch Leute, die mir gewisse Macho-Anteile attestieren.“ Sie sei daran interessiert, Stereotypisierungen und „binäre Denkweisen“ gerade zu überwinden. Woran sie indes glaube, das seien genuin individuelle Künstlerinnen- und Künstler-Perspektiven.

Fragt man Chiaki Soma, wie es sie überhaupt zur Bühnenbranche verschlug, bekommt man eine überraschende Antwort. „Guter Punkt“, ruft die Kuratorin aus ihrer Zoomkachel und lacht. „Ursprünglich mochte ich das Theater überhaupt nicht!“ Es seien eher die bildende Kunst, klassische Musik, Film und Tanz gewesen, die sie inspiriert hätten, als sie in den 1990er Jahren in Tokio studierte – französische Sprache und Literatur, mit einem Proust-Schwerpunkt.

„Das Theater war damals in Japan entweder naturalistisch-realistisch oder total kommerziell“, berichtet Soma, „es hatte absolut nichts mit meiner Lebensrealität zu tun.“ Das änderte sich zum einen, als sie nach Lyon ging, um auf Französisch ein Aufbaustudium in Kulturmanagement aufzusatteln, und dort auch andere Theaterformen erlebte – und zum anderen, als 1999 Hans-Thies Lehmanns Standardwerk „Postdramatisches Theater“ erschien, das quasi direkt ins Japanische übersetzt wurde.

Die dort thematisierten Ästhetiken jenseits des traditionellen Sprechtheaters, die performancenahe Happenings ebenso einschlossen wie dokumentarische Formen und sich außerdem neuen medialen Techniken öffneten, habe ihre gesamte Generation geprägt, erklärt Soma. Theaterleute wie den auch hierzulande sehr bekannten Regisseur Toshiki Okada eingeschlossen, der regelmäßig an deutschsprachigen Bühnen inszeniert und mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

Als Chiaki Soma, aus Lyon zurück in Tokio, dann das Tokyo-Festival mit aufbaute und über viele Jahre leitete, war sie die erste, die Ikonen des postdramatischen Theaters wie Christoph Marthaler, den heutigen Berliner Volksbühnen-Intendanten René Pollesch oder das Regiekollektiv Rimini Protokoll in Asien zeigte.

Ursprünglich mochte ich das Theater überhaupt nicht!

Chiaki Soma, Festivalleiterin

Oder besser: teilweise regelrecht durchsetzte gegen einen konservativen Theaterbegriff – als damals gerade 32-jährige Berufseinsteigerin in einer Männerdomäne, die sich ausdrücklich nicht zum Ziel gesetzt hatte, es der jungen Kollegin leicht zu machen. „Die japanische Gesellschaft ist extrem patriarchalisch“, sagt Soma. Erst in den letzten Jahren, im Zuge von MeToo, habe sie sich zu verändern begonnen. Dezidiert auch Regisseurinnen im Festival zu präsentieren, ist der Kuratorin daher ein besonderes Anliegen. 

Es gibt aber noch ein weiteres Leitmotiv, das sich durch das insgesamt 16-tägige Festival zieht. Im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt kann man den „Incubation Pod“ durchwandeln: mehrere Installationen, die zur Kontemplation und – bei Bedarf – auch zum (Mittags-)Schlaf einladen. Während man bei großen Kunstschauen wie der Venedig-Biennale hektisch von Werk zu Werk haste und nachgerade erschlagen werde vom massiven Input, gehe es hier tatsächlich um eine Wahrnehmungsveränderung, eine andere Körpererfahrung, sagt Soma. Gerne auch mithilfe von VR-Technik.

Das Inkubationsmotto entstand unter dem Eindruck der Pandemie und des Lockdowns, der mit der Vorbereitungsphase für „Theater der Welt“ zusammenfiel. Kuration eines globalen Festivals hin oder her: Wie alle anderen konnte Chiaki Soma kaum reisen. „Ich habe in dieser Zeit viel geträumt“, erzählt sie – und will jene Phase des Wartens und der Ungewissheit sozusagen ins Positive wenden: als Zeit der (Selbst-)Besinnung und Einübung in wirklich andere Wahrnehmungsweisen. Bis zum kommenden Wochenende hat das Publikum in Frankfurt und Offenbach somit noch die Chance, nicht nur das „Theater der Welt“, sondern auch sich selbst noch einmal anders kennenzulernen.

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