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Die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR in Leipzig. 64 Menschen ließen hier bis 1981 ihr Leben. In diesem Jahr starb der letzte Strafgefangene, wie üblich durch einen überraschenden Genickschuss.

© dpa/Hendrik Schmidt

„Einer musste es tun“: Rainer Wittkamps Roman über eine Familie von Henkern

Der früh verstorbene Berliner Autor hat eine trist-kühle Geschichte über einen Mann und seinen Sohn hinterlassen. Das Schicksal, glaubten beide, bestimme sie zu Scharfrichtern.

Ein Techniker des Todes. Präzise, routiniert, verlässlich und frei von jedem hemmenden Gefühl: So macht Peter Körber seine Arbeit. Er ist Henker von Beruf. Und er ist der Sohn eines Henkers.

Rainer Wittkamp, 2020 im Alter von 64 Jahren verstorbener Autor dieses Romans, hat sich zu „Mit aller Macht“ von den Lebensgeschichten dreier Scharfrichter anregen lassen. Das schreibt Christian Adam, Lektor und Publizist, in seinem Nachwort. Zudem stellt Wittkamp diese Vater-Sohn-Geschichte in einen geschichtlichen Zusammenhang: Der Vater diente den Nationalsozialisten, der Sohn den Realsozialisten der DDR. In deren „zentraler Hinrichtungsstätte“ in Leipzig wurde 1981 das letzte Todesurteil vollstreckt.

Schicksal, Schuld und der Umgang damit: Das sind die Themen dieses Romans. War es Schicksal, das den Vater wie den Sohn dazu brachte, einen Beruf, den man im Geheimen ausübte, für Regime zu praktizieren, die die Todesstrafe aus politischen Gründen verhängten? Konnten beide mit der Schuld, die sie anfangs dunkel fühlten, nur leben, indem sie ihre Gefühle, ihr ganzes Innenleben komplett vereisten?

Der Autor Rainer Wittkamp
Der Autor Rainer Wittkamp

© privat

Das Schicksal führt Regie

Rainer Wittkamp hat Romane geschrieben, Filme produziert und Regie geführt. Letzteres meint man dem Roman anzumerken: Mit fast brutaler Hand führt da eine Macht Regie im Leben des Vaters wie des Sohnes. Vater Fritz Wernicke übernahm das Scharfrichter-Amt noch bevor die Nazis an die Macht kamen. Er wollte zusätzliches Geld verdienen und seiner Familie eine Existenz im Hotelwesen bieten. Nach 1933 macht er weiter wie zuvor. Seine neuen Dienstherren hätten ihm, da ist er sich sicher, kein Zögern und Zaudern durchgehen lassen. Dann kommt der Krieg – und Fritz verliert bei einem Bombenangriff seine geliebte Frau.

Den Sohn gibt er zu Pflegeeltern. Peter, der Junge, kann keine Beziehung zu ihm aufbauen. Das Elternhaus ist staatsnah, ein wenig beengt. Als Junge liest Peter „Huckelberry Finn“; er entwickelt einen Sinn für Freiheit vor allem beim Musikhören, liebt den Jazz. Er studiert an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babelsberg, einer SED-Kaderschmiede. Bedenkenlos lässt er sich vom Ministerium für Staatssicherheit anwerben.

Die letzte Chance

Der junge Erfolgsmensch gewinnt die Frau, die er liebt. Man heiratet, doch es entsteht keine Innigkeit. Er öffnet sich ihr nicht, und so entfremdet sie sich ihm. Als sie in den Westen fliehen kann, ist seine Karriere erledigt. Sein Chef, Erich Mielke, gibt ihm eine einzige Chance: Er muss das Scharfrichteramt im Nebenberuf übernehmen.

Wittkamp beschreibt das alles in nüchterner Sprache, auf eine Weise emotionslos, wie er sich wohl diese beiden Männer vorgestellt hat. Über Fritz schreibt er, der habe sich nach dem ersten Lehrjahr als Scharfrichterhelfer „nichts mehr von Schuld und Notwendigkeit einreden“ müssen: „Er wusste, dass die Personen unter dem Fallbeil ihr Schicksal selbst zu verantworten hatten. Der Scharfrichter war einzig eine Verkörperung der Konsequenzen, von denen die Delinquenten dachten, sie würden über ihnen stehen.“

Es ist die Logik des „Einer muss es tun“ – das ist die Antwort des Henkers auf Fragen nach seiner Moral. Die Delinquenten sind selbst schuld. Dem Sohn liegt das weitere Nachdenken über sein Tun so fern wie dem Vater. Der kalte Blick, mit denen Wittkamp ihnen dabei zusieht, lässt beide Männer wie versteinert erscheinen, nachdem das Schicksal jedem der beiden einen brutalen Schlag versetzt hatte.

Rainer Wittkamp: Mit aller Macht. Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 247 Seiten, 18 Euro
Rainer Wittkamp: Mit aller Macht. Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 247 Seiten, 18 Euro

© Pendragon; Bearbeitung: Tagesspiegel

Die Figur des Vaters erinnert an den Scharfrichter Johann Reichhart, der den Nazis diente und nach dem Zusammenbruch des Regimes von den Alliierten übernommen wurde, um Kriegsverbrecher zu exekutieren. Sohn Peter vollstreckt ein Todesurteil an seinem besten Freund, der die Seiten gewechselt hatte, auch er charakterlich tiefgefroren. Mit starkem Willen das Gewissen aus dem eigenen Leben verbannen: Das macht nach Rainer Wittkamp den erfolgreichen Scharfrichter aus.

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