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Hermann Göring und Rudolf Heß als Angeklagte im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.

© imago images/ITAR-TASS

Buch über die Nürnberger Prozesse: Gellhorns Wut und Kästners Schweigen

„Das Schloss der Schriftsteller“: Uwe Neumahr erzählt von den prominenten Autor:innen, die über die Nürnberger Prozesse berichteten.

Viele deutsche Städte ähnelten nach dem Zweiten Weltkrieg Trümmerlandschaften. Als der britische Reuters-Korrespondent Seaghan Maynes, der über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess berichtete, einmal seine deutsche Sekretärin mit dem Auto nach Hause brachte, wunderte er sich, weil sie ihn bat, an einem Schutthaufen zu halten.

Die Sekretärin stieg aus und verschwand in einem Loch am Boden. „Ihre Mutter“, schrieb Maynes, „und zwei andere Jugendliche waren dort und lebten in diesem Loch, das der Keller eines Hauses war“. Die Nürnberger Altstadt war durch alliierte Luftangriffe zu 95 Prozent zerstört worden.

Der 1916 eingeweihte Justizpalast, in dem am 20. November 1945 der Hauptkriegsverbrecherprozess begann, war nur leicht beschädigt. Die fränkische Stadt, in dem die Nationalsozialisten eben noch ihre pompösen Reichsparteitage gefeiert hatten, wurde nun zum Ort, an dem die Verbrechen des Regimes vor Gericht kamen.

Das Verfahren gegen 24 Angeklagte aus der NS-Führungsriege sollte ein Signal setzen, mancher Beobachter sah in dem Prozess den Auftakt für die Umsetzung eines modernen Völkerstrafrechts. Der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson warnte in seiner Eröffnungsrede, dass „die menschliche Zivilisation (…) eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben“ würde. Ein Novum war, dass Live-Kommentare aus dem Justizpalast im Radio gesendet wurden.

Das Interesse am Prozess war gewaltig, zu seinem Beginn reisten rund 300 internationale Korrespondenten an. Sie alle in Nürnberg unterzubringen, erwies sich als unmöglich. Deshalb requirierten die amerikanischen Besatzer im Nachbarstädtchen Stein das Schloss der Bleistiftindustriellenfamilie Faber-Castell, einen historistischen Prunkbau, und funktionierten es zum Press Camp um. Von den prominenten Prozessbeobachtern, die zumeist dort unterkamen, erzählt Uwe Neumahr in seinem Buch „Das Schloss der Schriftsteller“.

Das Press Camp im Schloss der Bleistiftindustriellenfamilie Faber-Castell.
Das Press Camp im Schloss der Bleistiftindustriellenfamilie Faber-Castell.

© picture alliance/dpa/Faber-Castell

Erich Kästner, der den Nationalsozialisten als „Zersetzungsliterat“ gegolten hatten, war als Feuilletonchef der „Neuen Zeitung“ angereist. Er hofft, dass der Krieg aussterben könne „wie die Pest und die Cholera“, wenn es gelänge, die Angeklagten zur Verantwortung zu ziehen. Doch er schreibt nur eine einzige, oberflächlich bleibende Reportage. Die Schwere des historischen Augenblicks kann er, so Neumahr, „nicht reflektierend einfangen“.

Statt auf die Taten der Beschuldigten einzugehen, beschreibt er ihre Mimik und Physiognomie. Kästner hat die Jahre der Hitler-Herrschaft in Deutschland überlebt und sich dabei mit dem Regime arrangiert. Seinem als britischen Presseoffizier aus der Emigration zurückgekehrten Freund Peter de Mendelssohn verspricht er, einen Roman über diese Zeit zu liefern. Er wird ihn niemals schreiben.

Neumahr skizziert Biografien, streut Anekdoten, spitzt gekonnt zu. Alfred Döblin veröffentlicht eine Aufklärungsbroschüre über den „Nürnberger Lehrprozess“ und erweckt den Anschein, dabei gewesen zu sein. Das ist Lesertäuschung. Er war in Nürnberg, aber nicht im Gericht, vielleicht, so Neumahr, weil er den Anblick der Täter vermeiden wollte. Der jüdische Romancier hatte Angehörige in Auschwitz verloren.

Göring als „Puffmutter“

Während Hermann Göring von anderen Autoren als „arbeitsloser Chauffeur“ oder Renaissance-Condottiere dargestellt wird, feminisiert Rebecca West ihn als „Puffmutter“. Die britische Star-Reporterin, die für den „New Yorker“ schreibt, beginnt eine Affäre mit dem US-Hauptrichter Francis Biddle. Die Verhandlungen verlaufen langatmig, für sie ist „ein Gähnen“ das Symbol von Nürnberg. Bei der Liaison geht es um Nähe und Wärme angesichts des im Gericht verhandelten Horrors. Nach den Urteilssprüchen im Herbst 1946 kehrt Biddle allerdings zu seiner Familie zurück.

Der Prozess ist Männersache, aber auf den Zuschauerbänken sitzen viele Journalistinnen. Erika Mann, die mit ihrer Geliebten Betty Knox im Schloss absteigt, beklagt das „penetrante Selbstmitleid“ der Deutschen. Martha Gellhorn war 1944 am D-Day als einzige Reporterin mit den alliierten Truppen in der Normandie gelandet. Ein Besuch im gerade befreiten KZ Dachau hat sie schockiert: „Nichts am Krieg war so wahnsinnig brutal wie diese verhungerten und misshandelten, nackten, namenlosen Toten“. Das Nürnberger Verfahren, über das sie sachlich-kühl berichtet, vertieft ihren Hass auf die Deutschen.

Der Agent und der Kanzler

Nürnberg schrieb Geschichte und wies voraus in die Zukunft. Auch auf einen Politkrimi der Bonner Republik. Beim Prozess kreuzten sich die Wege von Willy Brandt und Markus Wolf. Wolf sollte später als Chef des DDR-Auslandsspionage den Agenten Guillaume steuern, über den Brandt als Kanzler stolperte. An einer Moskauer Parteischule zum Funktionär geschliffen, fungierte er als Korrespondent des Berliner Rundfunks.

Brandt berichtete für die Osloer Zeitung „Arbeiderbladet“ und norwegische Gewerkschaftsblätter. Wolf bewies Linientreue, forderte die Todesstrafe für alle Angeklagten und wollte dabei helfen, ihnen die Schuld für die Morde von Katyn zuzuschieben, die von Sowjets begangen worden waren. Brandt beklagte, dass es keinen deutschen Richter gab und schrieb ein Buch, in dem er zwischen Schuld und Verantwortung differenzierte. Brandt und Wolf lebten beide im Press Camp, aber zur Kenntnis nahmen sie einander nicht.

Als im verdunkelten Gerichtssaal Filmaufnahmen von Leichenbergen und abgemagerten Überlebenden in den KZs gezeigt werden, sind die Zuschauer fassungslos. Selbst die Angeklagten Walter Funk und Hans Frank (der „Schlächter von Polen“) sollen geweint haben. Aber der Völkermord an den Juden war keineswegs das Hauptthema des Prozesses. Unter den 139 geladenen Zeugen gab es nur drei Juden.

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