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Schloss Kochberg in Großkochberg.

© Foto: Markus Glahn

Historisches Liebhabertheater : Große Gefühle in Großkochberg

Auf Schloss Kochberg in Thüringen kann man Stücke aus dem 18. und 19. Jahrhundert in historischer Aufführungspraxis bewundern.

Goethe brauchte vier Stunden, um zu Fuß von Weimar bis Schloss Kochberg zu laufen, dem Landsitz seiner Liebe Charlotte von Stein. „Mir ist’s diese Woche in der Stadt wieder sehr wunderlich gangen“, schreibt er ihr im Juli 1777, früh um acht Uhr. „Ich habe mich herausgeflüchtet.“

In der Nacht war der verliebte Dichter an dem Wasserschloss angekommen. Die kleinen Söhne Charlottes waren schon zu Bett, sie selbst nicht zugegen. Nur der älteste Sohn Carl, zwölf Jahre alt, stieg mit Köchin und Kastellan hinab zum verschlossenen Tor, um den späten Gast zu begrüßen. „Ich trank noch viel Seltzer Wasser und wir erzählten uns unsrer Wochen Fata. Adieu, Beste.“ Hier, auf dem Gut des Oberstallmeisters Josias von Stein und seiner Ehefrau Charlotte, fühlte der junge Goethe sich wohl.

Unsere Schauspieler spielen wie in der Goethe-Zeit.

Silke Gablenz-Kolakovic, künstlerische Leiterin des Liebhabertheaters

Wer heute von Weimar aus nach Süden in Richtung Rudolstadt wandert, ist laut Google Maps fünfeinhalb Stunden unterwegs, bis er oder sie auf das Schloss trifft. Beschaulich liegt es, von bewaldeten Hügeln umgeben, im Dorf Großkochberg. Ein Wassergraben umschließt das weiße Gebäudeensemble mit den altrosa gestrichenen Fenstereinfassungen, eine überdachte hölzerne Brücke führt zum Schlosspark am Hang.

Das Bild der Anlage, das sich heute bietet, geht vor allem auf die Arbeit eben jenes Zwölfjährigen zurück, der Goethe seinerzeit am Tor begrüßte: Carl von Stein (1765–1837). Er verwandelte das Rittergut seiner Eltern in einen Musenhof und legte einen Landschaftspark an.

Vor allem aber ließ er das barocke Gartenhaus zu einem „Liebhabertheater“ umbauen, in dem – nach dem Modell des Weimarer Liebhabertheaters – professionelle Musiker ebenso auftraten wie die Familie samt Freunden und Dienerschaft. Um das Jahr 1800 errichtet, liegt das charmante klassizistische Gebäude mit seinem Säulenportikus am Eingang des Schlossparks und beherbergt einen Bühnenraum mit 75 Sitzplätzen und eine ebenerdige Bühne.

Eine Brücke führt über den Wassergraben zum freistehenden Liebhabertheater.

© Dorothee Nolte

Es ist das einzige erhaltene freistehende Privattheater Europas aus der Epoche – ein Juwel. Besucher:innen können hier nicht nur ein liebevoll restauriertes Theater der Goethezeit bewundern, sondern an den Wochenenden zwischen Mai und Ende September auch Vorstellungen von Werken des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts erleben: Oper, Schauspiel oder Konzert – in dieser Saison zum Beispiel das Goethe-Lustspiel „Die Mitschuldigen“ oder die Miniatur-Oper „Der gefangene Amor“ von Giuseppe Scarlatti.

Das Liebhabertheater ist Teil der Europäischen Route Historischer Theater, und die künstlerische Leiterin Silke Gablenz-Kolakovic legt bei allen Stücken besonderen Wert auf die historische Aufführungspraxis. „Unsere Schauspieler spielen so wie damals: Das betrifft Körperhaltung, Mimik und Gestik, aber auch die Sprechweise mit Rhythmus und Versmaß“, sagt die studierte Psychologin und Managementtrainerin, die das Theater seit 2004 leitet. Genau wie in der Goethezeit wenden sich die Mimen oft ans Publikum und sprechen direkt zu ihm. „Damals gab es keine ‚vierte Wand‘ zu den Zuschauern hin, das Publikum wurde einbezogen.“

Der Bühnenraum ist mit handgefertigten Marmorpapier-Tapeten ausgestattet.

© Markus Glahn

Damals wie heute soll die Bühne zu jedem Zeitpunkt wie ein Gemälde wirken. In dem intim wirkenden Raum, der mit handgefertigten Marmorpapier-Tapeten ausgestattet ist, entsteht eine ganz besondere Atmosphäre, vor allem wenn auf der Empore ein kleines Orchester spielt. Auch die Kostüme sind mit viel Sorgfalt und Recherche nach historischen Vorbildern geschneidert.

In diesem Jahr stehen die Aufführungen unter dem Thema „Lebenskunst“. „Lebenskunst offenbart sich gerade in Krisenzeiten“, sagt Silke Gablenz-Kolakovic. Auch Carl von Stein lebte in einer Krisenzeit, seiner Lebenskunst widmet sich das neue Opernprojekt des Liebhabertheaters: „Auf der Suche nach der besten Welt – ein Opern-Pasticcio über Musen, Acker und Bankrott“. Gablenz-Kolakovic, selbst Nachfahrin von Carls Bruder Fritz von Stein, würdigt dessen Leistung: „Inmitten von Krieg, einer Klimakatastrophe und drohendem Bankrott schuf er ein kleines Wunder und verwandelte das Rittergut Kochberg in einen Musenhof mit Park und Theater.“

Liebhabertheater Schloss Kochberg: eine Szene aus dem Stück „Die Mitschuldigen“.

© Maik Schuck

Dass Schloss Kochberg mit dem Liebhabertheater heute so viele Menschen anzieht, ist auch ein kleines Wunder. Das Theater sollte Anfang der 2000er Jahre geschlossen werden, und es kam die Idee auf, das Schloss zu verkaufen. „Um das Theater vor der Schließung zu bewahren, übernahm der damalige Förderverein die Verantwortung. Heute fungiert das Theater als Schaubühne der Klassik Stiftung Weimar“, erzählt Silke Gablenz-Kolakovic. Sie kam 1997 aus Stuttgart nach Thüringen und verliebte sich in das Theater.

Seit 2004 hält der gemeinnützige Verein zusammen mit Kooperationspartnern wie der Berliner lautten compagney den Theaterbetrieb am Laufen, der Park und die Gebäude sind im Besitz der Klassik Stiftung Weimar. Im März 2022 wurde Silke Gablenz-Kolakovic für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Silke Gablenz-Kolakovic, künstlerische Leiterin des Liebhabertheaters.

© Maik Schuck

Besonders glücklich ist sie über die Produktion „Die Theatralischen Abentheuer oder: Der Theaterdirektor in Nöthen“, eine Opern-Satire von Domenico Cimarosa. „Das war Goethes Lieblings-opera-buffa“, erzählt sie. „Er hat sie auf seiner Italienreise gesehen, die Partitur mit nach Weimar gebracht, das Libretto selbst übersetzt, Arien ergänzt und die Oper in Weimar aufführen lassen.“

Jahrelange Forschung ermöglicht es dem Leitungsteam, Goethes verschollene Fassung der Oper heute wieder zum Leben zu erwecken. Vor jeder Aufführung im Liebhabertheater gibt es eine Einführung. Die Diskussion, die sich an jede Vorführung anschließt, setzen die Gäste dann beim Wandeln im Park weiter fort.

Auch die Kostüme sind nach historischem Vorbild geschneidert.

© Dorothee Nolte

Ein Besuch lohnt auch jenseits der Aufführungen. Das Museum im Schloss erzählt die Geschichte des Anwesens und die der Liebe zwischen Goethe und der sieben Jahre älteren Charlotte. Originale Möbel verströmen die Atmosphäre der Goethezeit, auf einem Schreibtisch hat der Dichter die Daten einiger seiner Besuche mit Tinte notiert. Man kann sich gut vorstellen, wie er hier saß und Briefe verfasste.

Allein an Charlotte schrieb er im Laufe seines Lebens 1700 Briefe. Im Juni 1784 empfing sie in Kochberg folgende Zeilen: „Nun wird es balde Zeit, liebe Lotte, dass ich wieder in deine Nähe komme, denn mein Wesen hält nicht mehr zusammen, ich fühle recht deutlich, dass ich nicht ohne dich bestehen kann (…). Ich bin kein einzelnes, kein selbstständiges Wesen. Wie freue ich mich, Dir ganz anzugehören.“ Zwei Jahre später brach er, ohne sich zu verabschieden, auf nach Italien.

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