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Die Berliner Schriftstellerin und Psychotherapeutin Inga Machel

© Burak Isseven

Inga Machels Roman „Auf den Gleisen“: Kaputt und verzweifelt in Berlin

Die Berliner Schriftstellerin erzählt in ihrem erstaunlich gelungenen Debütroman von einen Mann, der einem Junkie durch die Hauptstadt folgt, um den Tod des eigenen Vaters zu verarbeiten.

Es ist Vorsicht geboten, wenn in einem deutschsprachigen Gegenwartsroman, einem Debüt zumal, erst einmal ein Familienalbum aufgeschlagen wird und jemand beschreibt, was er oder sie alles auf den Fotos erkennt. In Inga Machels Roman „Auf den Gleisen“ ist es Mario, der lange nach der Beerdigung seines Vaters dessen Familienfotos in einem Umschlag aufbewahrt hat und betrachtet.

Fotos aus dem Familienalbum

Er sieht darauf beispielsweise: „Mutter, Ron, der mir in den Schritt greift, und Vater, auf einem Parkplatz am Abend meines Abi-Balls“. Oder: „Vater, der zusammengesunken auf der Sofakante im Wohnzimmer seiner Eltern sitzt, und seine Schwester, die hinter ihm steht und ihn frisiert. Der Kopf meines Vaters, wie es aussieht, schwer in seinen eigenen Händen. Er starrt vor sich ins Nichts.“ Oder: „Mein Vater mit einem seiner engeren Freunde auf einer Bank sitzend, womöglich im Berliner Tierpark“.

Viel sagen tut einem das erstmal nichts, es sind Szenen aus einer Familie, mal mehr, mal weniger bedeutsam. Trotzdem kann Entwarnung gegeben werden, ein autobiografisch inspirierter, gediegener Familienroman ist „Auf den Gleisen“ nicht. Denn die 1986 geborene und in Berlin lebende Inga Machel macht schnell klar, dass diese Fotobeschreibungen in ihrer schnellen Abfolge verteilt auf gleich fünfzehn Seiten und in ihrer splitterhaften Ungeordnetheit selbst schon ein Stilmittel sind in einem Roman, der ziemlich viel Tempo hat.

An Herrndorfs Plötzensee

Erst die Beerdigung, zack, dann die Fotos, zack, dann der Ich-Erzähler, der seinen Vater verloren hat, zack, und schließlich, nach der Bilderfolge, ein in die Jahre gekommener Berliner Junkie. „Ich weiß, dass sich der Tod meines Vaters damals wie ein fremdes Organ in mir anfühlte, und ich spürte, es musste raus“, sagt Mario. „Und dann traf ich P.“ Dieser P. sorgt bei der Lektüre zunächst für Irritationen. Denn unklar ist, in was für einer Beziehung Mario und er stehen, was seine Funktion überhaupt ist, ob er womöglich ein Wiedergänger des Vaters ist. Zumal Mario mit ihm nie ein Wort spricht, ihm aber geradezu obsessiv, ja, beobachtet, folgt, begleitet.

Was folgt: eine Tour durch Berlin, deren zentralen Punkte die Schäferwiese sind, wo P. wohnt, und die Birkenstraße, wo eine Fixerstube ist. Diese Tour führt Mario aber auch in die Plattenbausiedlungen nach Marzahn, in die Danziger Straße, ins Hansa Viertel, an den Zoologischen Garten, an den Plötzensee und mehr. Etwa auch die Stelle am Nordufer, an der Wolfgang Herrndorf seinem Leben ein Ende setzte.

Durchsetzt ist diese spezielle Form eines Berliner Roadromans von Erinnerungen Marios an die Zeit seiner Kindheit und Jugend in den achtziger Jahren in einem Brandenburger Dorf. Und an die Zeit, da er nach der Schule nach Berlin geht und sein Vater erste Anzeichen einer depressiven Erkrankung erkennen lässt, die später zu diversen Krankenhausaufenthalten unter anderem in der Eschenallee in Charlottenburg führt.

Komplexe Vater-Sohn-Beziehung

Es ist eine schwierige, komplexe Beziehung, die Mario zu seinem Vater hat, (die zur Mutter gibt es kaum, als Figur bleibt sie blass), es sind schwierige dörfliche Verhältnisse, prekär mitunter, mit mancher Kaputtheit am Rande. Bisweilen entsteht bei der Lektüre der Eindruck, der im Wechsel geschilderten Tristesse kaum gewachsen zu sein: hier auf den Straßen Berlins mit P. und dem daueralkoholisierten Mario; dort dessen Erinnerungen an die Versuche, ein glückliches Familienleben und stabile Beziehungen zu führen, die Liebe des Vaters zu erfahren.

Inga Machel aber hat die sprachlichen Mittel, um diese Komplexität literarisch zu gestalten, nie gerät sie in Kitsch- oder Pathosfallen. Und nur selten läuft sie die Gefahr, nur um der grellen Effekte willen zu erzählen. Man versteht dann auch bald diese seltsame Beziehung des Erzählers zu dem Junkie. Sie ist seine Form der Traumabewältigung, in der sich die Erzähl- und die Erinnerungsebene zu verbinden scheinen, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, da sich ein weiterer Todesfall geradezu zwangsläufig einstellt.

Erst jetzt kann sich Mario in aller Klarheit noch einmal den Umständen des Todes seines Vaters stellen, daher der Romantitel, erst dann kommt es zu so etwas wie einer Erlösung. Ja, und auch als Leser dieses erstaunlichen, wenn gleich enorm düsteren Debütromans wird man mit ein wenig Hoffnung aus dieser Geschichte entlassen.

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