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Thurston Moore lässt seine Gitarre aufheulen.

© IMAGO/Pacific Press Agency/Carlo Vergani

Mahlstrom der majestätischen Dissonanzen: Thurston Moore lärmt in Kreuzberg

Ex-Sonic-Youth-Chef Thurston Moore zelebriert mit seiner Band beim Konzert im Festsaal Kreuzberg die komplette Rock’n’Roll-Entgrenzung.

In der Musikdokumentation „The Year Punk Broke“ von 1992 sagt Thurston Moore an einer Stelle: „Die Menschen sehen Rock’n’Roll als Jugendkultur, und wenn die Jugendkultur vom Großkapital monopolisiert wird, was soll die Jugend dann tun?“ Vielleicht immer älter werden, denkt man sich 30 Jahre später beim Betreten des Festsaal Kreuzberg. Graumeliertes Haar, wohin man schaut. Das Durchschnittsalter im Publikum liegt jenseits der 50.

Mittlerweile ist es zwölf Jahre her, dass Moore als Sänger und Gitarrist von Sonic Youth das letzte Konzert mit der legendären vierköpfigen Band vor zehntausenden Menschen in São Paulo spielte. Fast wie ein Wohnzimmerkonzert wirkt dagegen der nicht ganz ausverkaufte Saal beim Auftritt seiner The Thurston Moore Group.

Sonic Youth haben sich zwar nie offiziell aufgelöst, zuletzt kokettierte man gar mit einer Reunion, doch Schlagzeilen machte die Band in den letzten Jahren nur durch die Trennung von Moore und der Bassistin und Sängerin Kim Gordon. Nebenbei stürzten sich die Ex-Ehepartner, Gitarrist Lee Ranaldo und Schlagzeuger Steve Shelley in zahlreiche Soloprojekte. Doch umtriebiger als Moore war niemand. Zuletzt erschien 2020 sein siebtes Album „By The Fire“. Ein weiteres soll in Kürze folgen.

Pünktlich um 21 Uhr taucht seine ungebändigte, noch immer blonde Mähne im blauen Scheinwerferlicht auf. Erwartungsgemäß ertönen schrille Feedbackschleifen, die aber bald den sanften Akkorden der neue Single „Hypnogram“ weichen. Mit unkonventionellen Barrégriffen zaubert Moore hinreißende Melodien aus seiner Fender Jazzmaster. Dazu stampft ein gemächlicher, motorischer Drumbeat, treibt das Bassspiel von Deb Googe, die eigentlich bei My Bloody Valentine die Saiten zupft. Schon toll.

Wie Moore da mit 64 Jahren vor seinem Notenständer mit Textblättern steht, umweht ihn beinahe eine Neil-Young-Haftigkeit. Vom Furor, mit dem Sonic Youth seit 1981 mit allerlei Werkzeug ihre Instrumente traktierten und ihren voll aufgerissenen Verstärkern dissonante Verzerrungen entlockten, ist heute wenig geblieben.

Beinahe statisch entfesselt seine Band ihren akustischen Mahlstrom aus windschiefen Akkorden und majestätischen Dissonanzen, die sich immer wieder mit wabernden Drone-Flächen und zuckenden Feedback-Wolken abwechseln. Harmonien und Rhythmen verschieben sich unentwegt und lassen die Lärmwände des Soundarchitekten Thurston Moore ein ums andere Mal kollabieren.

Vor der 20-minütigen Zugabe kündigt er an, dass der letzte Song für die „komplette Ausmerzung von Grenzen“ stünde. Politisch mag das leider noch eine Utopie für eine ferne Zukunft sein. Künstlerisch aber, und daran erinnern die großartigen 90 Minuten im Festsaal Kreuzberg mal wieder nachdrücklich, lebt Moore diese Maxime seit Jahrzehnten radikal.

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