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Bologna-Entführung 2

© Anna Camerlingo/Pandora

Marco Bellocchios Film „Die Bologna-Entführung“: Zwischen Glätte und Tyrannei

Der italienische Regisseur erzählt die wahre Geschichte eines jüdischen Jungen, der 1858 aus seiner Familie genommen und unter der Obhut von Papst Pius IX. zum katholischen Glauben erzogen wurde.

Kindesentführung gilt als eines der schändlichsten Verbrechen. Gerade durch die Zwangsdeportation ukrainischer Kinder durch Putins Truppen oder die jüngsten Terroraktionen der Hamas in Gaza und Israel dürfte auch Marco Bellocchios neuer Film „Die Bologna-Entführung“ (Untertitel: „Geraubt im Namen des Papstes“) nun einen aktualisierenden Subtext kriegen. Dabei geht es um einen authentischen Fall, der in Italien 1858 begann.

Eines späten Abends pochen dunkelgewandete Männer an die Türen der wohlsituierten Bürgerfamilie Mortara im Herzen von Bologna, der Hauptstadt der oberitalienischen Provinz Emilia-Romagna. Eben noch haben die vielköpfigen, an ihrer Tafel drei Generationen versammelnden Montaras als gläubige Juden die rituellen Gebete zum Nachtmahl und dann mit den Kindern die Segnungen zum Schlafengehen gesprochen, da endet jäh die fromme familiäre Idylle.

Es ist der örtliche Inquisitor, den es Mitte des 19. Jahrhunderts noch gab und der namens der Heiligen Kirche und des Papstes nach dem kleinen Sohn Edgardo verlangt. Die Familie solle das siebenjährige Kind der katholischen Kirche ausliefern, da es getauft sei.

Stimmungsvoll gefilmt

Was zunächst wie religiöser Irrsinn oder schiere Willkür wirkt, erweist sich im Laufe der nun angesponnenen Geschichte als tragische Wirklichkeit. Offenbar hat ein früheres christliches Dienstmädchen, das auch als Amme den Säugling Edgardo betreute, das Kind heimlich mit ein paar Wasserspritzern als Laiin getauft, um das eigene Gewissen nach einem vorehelichen Fehltritt zu beruhigen.

Das hat sie nach Jahren in der anschließend nicht mehr geheimen Beichte gestanden. Oder zu ihrem Schutz behauptet. All das könnte freilich als verschrobene Affäre aus tief versunkenen, bigott-fundamentalistischen Zeiten und lange vergangenen machtpolitischen Verhältnissen erscheinen. Und weil die Gemeinheit gegenüber dem Kind und den betroffenen Eltern für heutige Betrachter auf der Hand liegt, könnte schon die moralische Eindeutigkeit dagegen sprechen, aus solchem Stoff noch einen besonders spannungsvollen Konflikt zu schüren.

Doch dem inzwischen 84-jährigen italienischen Altmeister Marco Bellocchio, dem zuletzt mit seinem Mafia-Thriller „Il traditore“ („Der Verräter“) wieder ein Glanzstück gelang, präsentiert auch bei der „Bologna-Entführung“ weit mehr als nur einen ehrenwerten Historien-Plot.

Bellocchio und seine Drehbuchmitautorinnen Susanna Nicciarelli und Daniela Ceselli haben alles getan, die Story geschickt in der Schwebe zu halten. Wenn der kleine Edgardo (berührend großartig: Enea Sala) aus den Armen seiner Eltern gerissen und in einer Kutsche ins fremde, ferne Rom verschleppt wird, glaubt man noch an eine unzweifelhafte Parteinahme gegen die Kirche.

Doch durch die stimmungsvoll gefilmten (und eindrucksreich animierten) Kulissen der Bologneser Altstadt, der Interieurs im jüdischen Bürgermilieu, durch die bäuerliche mittelitalienische Landschaft und dann den kalten Prunk des Vatikanstaats dringt allmählich ein wunderlicher Wandel.

Das Bild einer antisemitisch gefärbten Vergewaltigung des jüdischen Jungen und seiner ihn liebenden Familie bleibt zurecht. Aber es erfährt auch sehr behutsame Risse. In der Familie Edgardos geraten die leidenschaftliche, allein auf ihr natürliches Recht pochende Mutter (Barbara Ronchi) und der Vater (Fausto Russo Alesi) in allerhand innere Konflikte.

Antisemitisch gefärbte Vergewaltigung

Denn der Mann ist einerseits gesetzestreuer Italiener, zugleich aber gläubiger Jude und auch weltlicher Sozialreformer der in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche taktieren will. Und selbst im Kirchenstaat überprüft man die Frage, ob die Aussagen zur Taufe glaubwürdig erscheinen – freilich ohne große eigene Skrupel.

Doch während man in den Schlafsälen und bei den kirchlich-klösterlichen Exerzitien, denen Edgardo unterzogen wird, immer eine Ahnung von möglichem sexuellem Missbrauch spürt (was eher Einbildung bleibt), erlebt Edgardo allmählich doch neben dem Zwang immer mehr pädagogische Zuwendung und auch neue Geborgenheit.  

Zum wahren Drama wird so die allmähliche Entfremdung des Kindes von seiner Familie. Später als Priester wird er zwar die Vergebung der Mutter suchen, indes erweist sich der ursprüngliche formale Rechtsakt und zugleich menschliche Unrechtsakt der Kirche als ambivalent.

Die Entführung ist auch eine Verführung, mit Anmutungen an das heute bekannte Stockholm-Syndrom. Diese vielfältigen Verstrickungen werden vor allem von Leonardo Maltese als Darsteller des älteren Edgardo und Paolo Pierobon als dem immer enger in die Affäre einbezogenen Papst Pius IX brillant beglaubigt.

Pierobon zeigt hier zwischen Glätte, Tyrannei (mit der er Edgardo einmal den Kirchenboden lecken lässt) und dann wieder soignierter Ersatzväterlichkeit eine Verkörperung aller dramatischer Widersprüchlichkeiten, aus denen Bellocchios Film seine Kraft schöpft.

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