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Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich 1978 im New Yorker Studio 54 zu einem Disco-Beat.

© PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS/Richard Drew

Mary Gaitskills Roman „Veronica“: Blüte des Vergnügens

Die ehemalige Stripperin Mary Gaitskill erzählt in ihrem Roman von der ungewöhnlichen Freundschaft zweier Frauen und ihrem von Missbrauch, Drogen und Krankheit geprägtem Leben.

Veronica ist Korrekturleserin in einer Werbefirma, hört gern Opern und trägt Strickpullis. Alison ist 16 Jahre jünger, Model und findet, Veronica sehe aus wie eine „fleischgewordene Kuckucksuhr“. Sie lauscht Veronicas Geplapper über ihre Katzen und ihren bisexuellen Freund nur widerstrebend. Doch als sich Veronica mit HIV infiziert, ist Alison die letzte Freundin, die ihr bleibt.

Zu Beginn von Mary Gaitskills Roman ist die eigentliche Protagonistin Alison Ende vierzig, krank und einsam. Geld verdient sie, indem sie die Wohnung eines verflossenen Liebhabers putzt. Alisons grauer Alltag ist durchsetzt von Erinnerungen an ihre strahlende Modelvergangenheit während der 1980er Jahre, zunächst in Paris, später in New York.

Ein Leben, geprägt von Partys, Drogen und Sex. Gaitskill lässt Alison vom sexuellen Missbrauch in der Branche in einem nüchternen „Das gehört nun mal dazu“-Ton erzählen. Die titelgebende Veronica kreuzt ihre Gedanken zunächst nur flüchtig. Doch allmählich nimmt sie mehr Raum in Alisons Erinnerungen ein. Alison wird sich schleichend der Rolle bewusst, die Veronica in ihrem Leben gespielt hat.

Autorin von „Bad Behavior“

Die 68-jährige Autorin Mary Gaitskill wurde in Lexington, Kentucky, geboren und hat einiges mit ihrer Protagonistin gemeinsam: Auch sie war Sekretärin und Model. Wie Alison verkaufte sie Blumen am Straßenrand von San Francisco, nachdem sie als Teenager von zu Hause weggelaufen war.

Gaitskill arbeitete darüber hinaus als Stripperin und Buchhändlerin. Ihre ersten Texte schrieb sie während des Studiums. Ihr Debüt „Bad Behavior“ von 1988 ist eine Sammlung von Erzählungen über Sehnsüchte, Drogen und sexuelle Beziehungen. Ihr viertes Werk „Veronica“ ist 2005 im Original erschienen und wurde für den „National Book Award“ nominiert.

Mary Gaitskill auf dem Brooklyn Book Festival 2010.

© David Shankbone

Dem Roman ist anzumerken, dass Gaitskill vor allem mit Kurzgeschichten Erfahrungen hat. Leser:innen müssen sich durch einen Flickenteppich aus Erinnerungen verschiedener Zeitebenen wühlen, bevor sie einen roten Faden finden. So springt Gaitskills Alter-Ego Alison vom Sadomaso-Club in Paris zu einem Besuch bei ihrer Familie, weiter zu einer Begegnung mit Veronica, und zurück zum Taxi in Paris außerhalb des Clubs. Wie viel Zeit zwischen diesen Szenen liegt, erklärt sie nicht. Das macht es schwierig, der Handlung zu folgen.

Diese Inkohärenz liegt auch in Alison begründet. Sie hadert mit der Modelwelt. Einerseits wird sie von ihrem ersten angeblichen Agenten hereingelegt und missbraucht. Während ihres ersten Jobs in Paris besucht sie eine „Konditorei mit Torten, die wie sahnegarnierte Schmuckkästchen aussahen“. Doch statt sich am Luxus zu erfreuen, sehnt sie sich „nach dem einfachen chemischen Geschmack von Supermarkt-Pie“. Andererseits genießt sie die – sehr explizit beschriebenen – Partys und ihre sexuelle Freiheit, und wagt nach ihrem Absturz in Paris einen zweiten Karriereversuch in New York.

Wir betraten die große nächtliche Blüte des Vergnügens, eine weit geöffnete riesige dunkle Lilie, die von betrunkenen Feen bevölkert war.

Alison in „Veronica“

Gaitskill schmückt die Erzählung mit einer bildhaften Sprache und vielen Metaphern. So schreibt sie: „Ich fühlte mich wie eine ausrangierte Badewanne, die in einem Garten steht und von der Sonne beschienen wird. Es fühlte sich gut an.“ und „Wir betraten die große nächtliche Blüte des Vergnügens, eine weit geöffnete riesige dunkle Lilie, die von betrunkenen Feen bevölkert war.“

Veronica spielt erst eine größere Rolle in Alisons Leben, als es mit ihrer Karriere bergab geht und Veronica sich mit HIV infiziert. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung gegenüber Veronica, sieht Alison in ihr eine Retterin: „Ich versank in der Dunkelheit und lebte so lange unter den Dämonen. Ich wurde eine von ihnen. (...) Ich wurde von einer anderen Dämonin gerettet, die mich voller Mitleid ansah (...). Und weil ich auch sie bemitleidete, durfte auch ich wieder ein Mensch werden.“

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