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Wie viele Mütter kann eine einzelne Frau sein? Sandra Ruffin in „Mother Tongue“.

© Foto: Ute Langkafel

„Mother Tongue“ im Gorki Theater: Wider das Fortpflanzungsdogma

Ein Hoch auf die Regenbogenfamilie. Die Regisseurin Lola Arias eröffnet mit „Mother Tongue“ die Spielzeit am Gorki Theater. Ganz unideologisch.

Auf den Gemälden vergangener Jahrhunderte ist Mutterschaft meist eine sehr rosige Angelegenheit. Und vor allem: eine ziemlich einseitige. Zumeist sitzt da eine gütige, von ihrer Alleinverantwortung für den Nachwuchs ganz verzückte Frau, um die sich eine beliebig erweiterbare Anzahl von wohlgeratenen Babys oder Kleinkindern schart. Ein Bild, das viele Menschen (darunter nicht selten ältere Herren) gern für alle Ewigkeit zum nachahmenswerten Ideal erklären würden. Jüngeres Beispiel: die Entscheidung des Supreme Courts in den USA bezüglich des Abtreibungsrechts. Jedenfalls ist kaum ein Thema aus dem weiten Feld der Körperpolitik ideologisch so aufgeladen wie dieses – Mutterschaft.

Elternschaftsmodelle und Samenbankanekdoten

Am Gorki Theater hat die Regisseurin Lola Arias nun zur Eröffnung der neuen Spielzeit ihr Stück „Mother Tongue“ zur Premiere gebracht, in einer Berliner Version. Zuvor gab es bereits Aufführungen in Bologna und Madrid. Im Untertitel nennt sich der Abend „Eine Enzyklopädie der Fortpflanzung im 21. Jahrhundert“. Als Oberthema hat der Abend einen Begriff, der gerade dort bedenkenswert ist, wo es um familiäre Konstellationen inklusive Vermehrungswunsch geht: Diversität. Sieben Protagonist:innen – Ufuk Tan Altunkaya, Cochon De Cauchemar, Kay Garnellen, Alice Gedamu, Millay Hyatt, Nyemba M’Membe und Sandra Ruffin – stellen die eigenen Biografien zur Verfügung für ein sehr Gorki-typisches, autofiktionales Erzählen, das in guter alter, aufklärerischer Tradition auf Horizonterweiterung abzielt.

In einem Bühnenbild, das mit hohen hölzernen Regalen voller Bücher und Instrumente Bibliotheks-Assoziationen abruft – oder wahlweise an den Forschungsraum eines naturwissenschaftlichen Museums denken lässt (Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte) –, werden in neun Kapiteln verschiedene sexuelle Sozialisationen und Gender-Identitäten, Geschichten von Abtreibung und Geburt, Elternschaftsmodelle, Samenbankanekdoten oder auch Zukunftsvisionen für neue Mütterbilder verhandelt.

Die argentinische Regisseurin Lola Arias überzeichnet Vorstellungen von Mutterschaft. 

© Foto: Esra Rotthoff

Es geht um ein Paar mit unerfülltem Kinderwunsch, das sich durch den mehrjährigen Horror von fehlgeschlagenen In-vitro-Fertilisationsversuchen quält (wobei die körperliche Last selbstredend allein die Frau trägt) und das schließlich ein Pflegekind aufnimmt. Das wird zur Herausforderung, als die beiden sich trennen, aber trotzdem gemeinsam verantwortlich bleiben möchten. Wir begegnen einer Sexarbeiterin, die ihre angeblich tickende biologische Uhr noch nie gehört hat und stolz ist auf ihre Kinderfreiheit.

Einem trans Vater, der aufgrund von bürokratischen Eingriffen noch das „f“ für „female“ im Pass stehen hat, was ihn regelmäßig in absurde Erklärungsschrauben nötigt, wenn er seine Rolle bei der gemeinsamen Kindererziehung mit zwei Müttern darzulegen versucht. Und wir lernen ein schwules türkisches Paar kennen, das sich ebenfalls für ein Modell der Ko-Elternschaft entscheidet, mit einer Frau, die sie über ein Berliner Portal kennengelernt haben. Der Fokus liegt bei allen Episoden auf der Post-Romantik. Adieu, Liebe-gleich-Nachwuchs-Dogma!

(Nächste Vorstellungen am 18./19. September, 19.30 Uhr, weitere im Oktober)

Lola Arias setzt ihre Protagonist:innen sehr empowernd in Szene, lässt sie „Like a Virgin“-Choräle anstimmen (Dirigat: Doreen Kutzke), in Punksongs gegen den Reproduktions-Imperativ wettern, der Wut darüber Ausdruck verleihen, dass es noch immer keine hormonelle Verhütung für den Mann gibt; oder auch „Nodoption“-Parolen deklamieren.

Letzteres ist eine Bewegung, die gegen die Diskriminierung von Regenbogenfamilien beim sogenannten Abstammungsrecht vorgeht. Zum Beispiel wird ja in einer lesbischen Beziehung mit Nachwuchs diejenige Mutter, die das Kind nicht selbst auf die Welt gebracht hat, nicht automatisch als Elternteil anerkannt. Sondern sie ist zur Adoption aufgefordert. Überhaupt vermittelt „Mother Tongue“ sehr eindrücklich, welche Hürden der Staat für alle errichtet, die aus dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Schema fallen.

Der Abend wird bei der Berlin-Premiere heftig gefeiert. Es ist allerdings schade, dass Arias Aktivismus so entschieden über Ambivalenz stellt. Zum Beispiel bergen ja auch Modelle von Ko-Parenting (möglich in den verschiedensten Konstellationen) ihre Fallstricke. Teilweise schließen die Beteiligten Verträge miteinander, die dem Realitätstest nicht standhalten oder Ähnliches. Es gibt eine Reihe interessanter Artikel darüber. Die Regisseurin interessiert sich aber nicht für Zwischentöne, sondern lässt immer mal zuckersüße Kindervideos projizieren. Das ist dann gar nicht so weit weg vom Kitsch in den Museen, wie man meinen sollte.

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