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Empathie und Meeresbiologie. Aus der Ballhaus-Ost-Produktion „Flipper“.

© Rosa Wernecke x DALL.E/Rosa Wernecke x DALL.E

Performance-Marathon am Ballhaus Ost: Willkommen im Flipperverse

24 Stunden, die die Sinne reizen sollen. Die Theaterperformance „Flipper“ am Ballhaus Ost ist ein Happening, das Grenzen sprengen will. Inklusive Tattoo-Stecherei und Meditation.

Einem verbreiteten Mythos zufolge nutzt der Mensch nur rund zehn Prozent seiner Gehirnkapazitäten. Das mag bei einem Blick in die Welt zwar einleuchtend erscheinen – ist aber trotzdem keine ganz unproblematische Geschichte. Denn diese Zehn-Prozent-Annahme wird auch von allen möglichen esoterischen Bewegungen oder Sekten missbraucht. Als Verbesserungsversprechen nach dem Motto: Mit uns zur vollen Entfaltung!

Und davon grenzt Heinrich Horwitz sich schon mal entschieden ab. Als Künstler:in interessiert Horwitz etwas anderes. Nämlich der Blick auf Lebewesen, die offenbar keine spirituelle Erleuchtung benötigen, um mehr als nur einen Bruchteil ihres geistigen Potenzials in Gang zu setzen.

„Ich habe schon während des Studiums gelesen, dass Delfine und andere Wale einen weiteren Teil des Gehirns besitzen, den wir Menschen nicht haben“, erklärt Horwitz. „Einen Teil des limbischen Systems, der für die empathischen Fähigkeiten zuständig ist“.

Eben diese wird nun zum Ausgangspunkt der Performance „Flipper“ im Ballhaus Ost – ein 24-stündiges Happening, das wenig bis gar nichts mit der gleichnamigen Fernsehserie über den grob verniedlichten Meeressäuger zu tun hat, dafür aber ein „Flipperverse“ eröffnet, in dem sich jede:r willkommen fühlen darf. Das keiner klassischen Theaterdramaturgie folgt, sondern gewohnte Strukturen von Zeit auflösen will.

Horwitz sitzt im Probenraum im Theaterhaus, wo eine gesamte Wand mit Zetteln bepflastert ist. Unterteilt nach den verschiedenen Phasen, aus denen dieser einmalige Performance-Marathon bestehen wird. Beteiligt sind daran auch Rosa Wernecke, Magdalena Emmerig, Annett Hardegen und weitere eines „fluiden Kollektivs“, mit dem Horwitz in verschiedenen Konstellationen schon seit 2016 künstlerische Forschungsreisen unternimmt.

Auf dieser geht es – inspiriert unter anderem von der feministischen Denkerin Donna Haraway – um die Suche nach neuen Formen von Gemeinschaft, nach neuen Verbindungen, die nicht auf menschliches Miteinander beschränkt bleiben. Horwitz zitiert in dem Zusammenhang scherzhaft das satirische Manifest „Goodbye, human pride“, Untertitel: „Leave the rabbits alone“. Das empfiehlt unserer Spezies zwecks Steigerung der planetaren Lebensqualität das kollektive Abdanken.

Heinrich Horwitz ist Regisseur:in und Schauspieler:in und hat „Flipper“ mit entwickelt.

© PAULINA HILDESHEIM

„Flipper“ arbeitet freilich an positiveren, queer-feministischen Utopien. Unter anderem wird es bei diesem Happening um das „Future Self“ gehen. Mit der Leitfrage: Wer wäre ich ohne die Repression des Patriarchats? Wobei dem Weiterdenken keine Grenzen gesetzt sind: „Wäre ich ein Cyborg, würde ich auf dem Land mit fünf Hunden und ohne Kinder leben, wäre ich halb Vogel, halb Baum?“, beschreibt Horwitz die Möglichkeitsräume.

Tatöwieren ist auch möglich

Die insgesamt 13 Performer:innen gehen dazu in den Austausch mit dem Publikum und übersetzen die gesammelten Zukunftsprojektionen in eine Art Choreographie. Zu einem früheren Zeitpunkt („Climax“ getauft) steht auch ein gemeinsamer Tanz von Künstler:innen und Zuschauer:innen auf dem Programm, anderthalb Stunden zu Offbeat-Techno der Soundkünstlerin Katharina Pelosi. Es wird Meditationen geben und die Option, sich tätowieren zu lassen. Das „Flipperverse“ ist reich an Möglichkeiten.

Es ist nicht die erste Durational Performance, die Horwitz unternimmt (zu Corona-Zeiten gab es mit „Genesis“ ein Live-Computerspiel, bei dem Performer:innen als Avatare auftraten). Und auch nicht die erste Auseinandersetzung mit Mythen – zuletzt wurde in „Amazon Rising“ der männliche Blick auf die Figur der Amazone dekonstruiert.

Was aber vor allem eine Kontinuität in Horwitz’ Schaffen als Regisseur:in, Choreograf:in, Performer:in, Schauspieler:in oder Musiker:in mit dem Decoder Ensemble markiert, das ist die Suche nach dem Verbindenden – jenseits des Umstands, „dass wir alle Menschen und damit vermeintlich gleich sind“. Als Künstler:in und als Aktivist:in geht es Horwitz darum, eine Ausgrenzung zu überwinden, „die schon in der Schule beginnt, wo einem beigebracht wird, dass es nur eine Wahrheit gibt“. Warum sich nicht anfreunden mit der Unterschiedlichkeit, der Gleichzeitigkeit? Von Lebensformen, Sichtweisen, Identitäten. Die Frage hat Horwitz auch kürzlich in einem Impulsvortrag bei den Berliner Festspielen aufgeworfen.

Horwitz ist an der Oper oder der Berliner Schaubühne genau so unterwegs wie in der Freien Szene. Letztere ist bekanntlich am prekärsten aufgestellt, aber genau diese Strukturen sind es, in denen Horwitz das Gefühl hat, Prozesse anstoßen zu können, „die eine realpolitische Anbindung haben“. Die echte Veränderung bewirken. Und auch den eigenen Horizont weiten. Nach Monaten der Recherche zu „Flipper“ hätte Horwitz jetzt große Lust, „Meeresbiologie zu studieren“.

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