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Die Performance „Selfie & Ich“ wird von Ballhaus Ost und investigative theater in vier Wohnungen veranstaltet.

© Verena Kathrein

„Selfie & Ich“ am Ballhaus Ost: Über den sehr schmalen Grat zwischen Normalzustand und Krankheit

Die Performance zieht durch vier verschiedene Wohnungen und gibt Einblick in die Lebenswelt psychisch Erkrankter – die unerhörterweise nicht störungsfrei funktionieren.

Immer wieder ist vom Funktionieren die Rede an diesem Abend. Zum einen erwarten die Menschen das von sich selbst: schnell wieder auf die Beine zu kommen. Zum anderen hat das Umfeld meist die gleichen Ansprüche. Klar, jede:r kann mal ausfallen. Aber bitte nur kurz und möglichst geräuschlos.

Für den Normalzustand – leistungsfähig, feierfreudig, idealgewichtig und sozial angepasst – ist eigentlich keine Pausentaste vorgesehen. Das Problem an der Sache: Nicht einmal Maschinen funktionieren störungsfrei. Menschen schon gar nicht.

„Selfie & Ich“ am Ballhaus Ost. Jeder kann mal ausfallen, aber bitte nur kurz.

© Verena Kathrein

Die Theatermacherin Christiane Mudra, Gründerin des Labels investigative theater, beschäftigt sich in ihrer Produktion „Selfie & Ich“ mit einem Thema, das schon immer Relevanz hatte, gegenwärtig aber an Dringlichkeit noch gewinnt: Psychische Erkrankungen. Statistiken über die Zunahme von Angst- und Essstörungen, Depressionen, Psychosen oder Abhängigkeiten erscheinen so regelmäßig wie Berichte über den Mangel an Psycholog:innen und klinischen Behandlungsplätzen.

Absturz eines Highperformers

Vor allem seit der Pandemie will der Ausnahmezustand für viele nicht enden. Bloß scheint das nichts am Stigma zu ändern, das psychischen Erkrankungen anhaftet.

Die Perfomance, eine Kooperation mit dem Ballhaus Ost, führt durch vier Neuköllner Privatwohnungen zwischen Böckh- und Reuterstraße. Die Teilnehmer:innen werden mit Kopfhörern ausgestattet, betreten fremde Flure, Wohnzimmer oder Küchen, in denen Schauspieler:innen (Gabriele Graf, Sebastian Gerasch, Melda Hazirci und Murali Perumal) stumm Verrichtungen nachgehen, die das jeweils Gehörte noch einmal eigens ins Bild setzen.

In jeder der Wohnungen steht eine andere Unterbrechung des reibungslosen Lebenslaufes im Fokus. Christiane Mudra hat Interviews mit Betroffenen geführt und sie zu 3-D-Soundcollagen verdichtet, zu unter die Haut gehenden Polyphonien aus Schicksalsbericht, innerem Ringen, äußeren Anwürfen und Reflexionen über die gesellschaftliche Dimension des Krankheitsbildes.

Es geht ums Trinken gegen die Angst und das Abrutschen in die Sucht in sozialen Zusammenhängen, die den Konsum verharmlosen („eigentlich trinken alle um mich herum irre viel“), um Alkoholismus als Problem gerade auch von Frauen mit hohem sozioökonomischem Status, entgegen der Klischees. In der nächsten Wohnung sind Depressionen und Burnout das Thema, das Kippen der viel beschworenen Work-Life-Balance.

Wie lautet eine der Lieblingsfragen der Deutschen? Richtig: „Was machst du beruflich?“. Zu hören ist die Geschichte eines Highperformers, den es unversehens aus der Kurve trägt, zwischen Selbstoptimierungs-Slogans, MDMA, 500 Mails im Postfach und der Sehnsucht, einfach mittelmäßig sein zu dürfen.

Angst vor dem Spiegel

Mudras Entscheidung, als Setting Privatwohnungen zu wählen, ist nicht einfach nur ein performativer Thrill. Vielmehr vermittelt sich ein Gefühl dafür, dass psychische Ausnahmeerfahrungen kein entrücktes Phänomen hinter Klinikmauern sind – so gern wir uns das auch einreden würden –, sondern Alltag. Am dritten Schauplatz, wo die Erzählung um eine paranoide Schizophrenie kreist, berichtet ein junger Mann davon, wie alle Freunde den Kontakt zu ihm abgebrochen haben: „Vielleicht, weil sie Angst hatten, sich in mir zu spiegeln“.

Wer konfrontiert sich schon gern damit, dass der Grat zwischen vermeintlicher Normalität und ihrem Gegenteil ein sehr fragiler ist? Zumal ja auch die Betroffenen oft alles daransetzen, den Schein des business as usual zu wahren. Wie die an Magersucht Erkrankte, um die es in der vierten Wohnung geht.

Zwischen den Stationen, beim Spazieren auf Neuköllner Straßen, wird über Kopfhörer ein Psychiatrieschicksal zwischen Nazizeit und 1980er Jahren anhand einer Patientenakte erzählt. Eine todtraurige Geschichte auf Amtsdeutsch, die vermittelt, wie Ausgrenzung unseren Blick bestimmt. Bis heute.

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