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Wladimir Putin, russischer Präsident vor dem Kreml ein.

© picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin

„Technik des Staatsstreichs“ von 1931: Was das erstaunlich aktuelle Essay über den Prigoschin-Aufstand verrät

Vor fast 100 Jahren schrieb der italienische Autor Malaparte eine Analyse über gelungene und missglückte Revolten. Für ihn ist Putin der wahre Putschist.

Der vom Söldnerführer Jewgeni Prigoschin inszenierte und von ihm wohl nicht einmal ernsthaft gewollte Versuch eines Staatsstreichs in Russland musste zwangsläufig scheitern. Prigoschin hätte es bereits bei einem nur flüchtigen Blick auf die jüngste Geschichte seines Landes auch wissen können.

Die Revolte des in der Nähe von Wladimir Putin groß gewordenen Oligarchen war vor allem von den Emotionen und Animositäten getrieben. Sie verpuffte in den Weiten der russischen Provinz noch schneller als der Putsch gegen Michail Gorbatschow im August 1991 und der Angriff auf Boris Jelzins Weißes Haus im Oktober 1993.

In beiden Fällen waren die Putschisten der Moskauer Zentrale seinerzeit schon wesentlich näher gekommen, als jetzt Prigoschin. Beim Aufstand der alten Nomenklatura gegen Gorbatschow vor mehr als 30 Jahren saßen die Protagonisten sogar mitten im engsten Kreis der Macht. Genützt hat es ihnen nichts.

Eine Analyse gelungener und missglückter Revolten

Die in den letzten Tagen oft benutzte Formulierung „Marsch auf Moskau“ assoziiert gewollt oder ungewollt einen früheren: Benito Mussolinis „Marsch auf Rom“ im Jahr 1922. Knapp zehn Jahre danach war 1931 ein Buch über die „Technik des Staatsstreiches“ erschienen, das beim Wiederlesen erstaunlich frisch und aktuell erscheint.

Der Autor Curzio Malaparte, der lange große Sympathien für den italienischen Faschismus hegte, entwickelt darin die steile, aber faszinierende These, der „moderne“ Staatsstreich sei kein Problem des politischen Programms und der Strategie, sondern allein eines der richtigen Technik. Sein machiavellistisch-moralfreier Text ist doppelbödig. Er kann gelesen werden als Anleitung für Putschisten ebenso wie als Warnung vor ihnen.

Der Aufstand wird nicht mit Massen gemacht, sondern mit einer Handvoll Männern, die, zu allem bereit, gegen die Lebenszentren der technischen Organisation des Staates schnell und hart zuschlagen.

Curzio Malaparte, Autor

Malaparte analysiert einige gelungene und missglückte Revolten: die Oktoberrevolution, den Kapp-Putsch in Deutschland, Mussolinis Machtergreifung und den Aufstieg Hitlers. Die Oktoberrevolution in Russland dient ihm als Paradestück eines gelungenen Staatsstreichs. Sie habe gezeigt, dass bei Revolutionen „die Strategie überschätzt“ werde. „Was zählt ist die Taktik des Aufstandes, die Technik des Staatsstreichs.“

Verhältnismäßig wenige günstige Umstände müssten zusammenkommen für eine grundlegende Umwälzung der Zustände. Der wichtigste ist eine „bereits bestehende revolutionäre Erschütterung der Staatsordnung und des Gesellschaftsgefüges“.

„Der Aufstand“, schreibt Malaparte mit Verweis auf die maßgeblich von Leo Trotzki bestimmte Organisation der Revolte in St. Petersburg im Herbst 1917, „wird nicht mit Massen gemacht, sondern mit einer Handvoll Männern, die, zu allem bereit, in der Aufstandstaktik ausgebildet und trainiert, gegen die Lebenszentren der technischen Organisation des Staates schnell und hart zuschlagen.“

Lenin, von Trotzkis Vorstellungen zunächst nicht unbedingt überzeugt, wird diese Aktionen kleiner Gruppen von Revolutionären später „die Besetzung der Kommandohöhen“ nennen.

Das russische Staatsgefüge war nicht erschüttert

Prigoschins bizarrem Marsch fehlte es verglichen damit an allem. An einer rationalen politischen Strategie sowieso, vor allem aber an der notwendigen Technik. Er kam schnell voran, weil er zunächst auf kaum nennenswerte Gegenwehr traf. Aber genauso schnell war es vorbei, weil trotz der offensichtlichen Fehlschläge in der Ukraine keine Erschütterung der russischen Staatsordnung und im Gesellschaftsgefüge bestand und auch nicht im Vormarsch spontan entstand.

Die Jubelbilder aus Rostow am Don täuschten, wie Fernsehbilder so oft. Armee und Bevölkerung standen, wie sich rasch herausstellte, weitgehend zu Putin. Wofür dieser sich hernach auch artig bedankte.

Die nach dem Scheitern aufgekommene Behauptung, Prigoschin habe seine Revolte monatelang vorbereitet, mag man nicht recht glauben. Weil man sich nicht vorstellen kann, dass der allgegenwärtige Inlandsgeheimdienst FSB, der praktisch jeden einzigen missliebigen Online-Post eines Kriegsgegners aufspürt, ausgerechnet beim Aufdecken eines gewaltigen Komplotts gegen die Kremlführung bis zum Moment seiner Ausführung blind gewesen sein sollte.

Folgt man Malapartes Gedanken weiter, führen sie einen zur Erkenntnis, dass den wirklichen Staatsstreich in Russland schon zwei Jahrzehnte vor Prigoschin ein ganz anderer vollzogen hat: Wladimir Putin.

Malaparte ist nach der Betrachtung der 1920er-Jahre der Überzeugung, dass der „moderne“ Putschist nicht über die Massen auf Barrikaden und mit aufgepflanzten Fahnen an die Macht gelangt, sondern ganz legal die Regierungsgewalt übernimmt, um danach den radikalen Umbau des früheren Staatswesens in Angriff zu nehmen.

Der Weg an die Macht führt nicht über Barrikaden

Strikte Legalität ist vor einem solchen Staatsstreich sogar die Bedingung für sein Gelingen. Es ist gewissermaßen ein „Staatsstreich von oben“: nicht auf die plötzliche revolutionäre Umwälzung, sondern auf lange Frist angelegt. In eine Reihe von Phasen zeitlich zerlegt, ist diese Form des Putsches auch lange Zeit fast geräuschlos. „Am meisten fürchten sie“, heißt es bei Malaparte, „für ,gesetzlos’ gehalten zu werden.“ Da fallen einem übrigens auch die Namen anderer Autokraten ein, auf die das zutrifft.

Alles beginnt damit, dass diese Putschisten den Staat über seine wichtigste politische Institution erobern, das Parlament. „Der Irrtum der parlamentarischen Demokratien“, schreibt Malaparte, „ist ihr übermäßiges Vertrauen zu den Errungenschaften der Freiheit, während im heutigen Europa nichts gebrechlicher ist.“

Putin, einmal an der Macht, rechtfertigte seine Zerstörung liberaler Ansätze der nach-sowjetischen Zeit, die Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie, die Vernichtung einer tatsächlichen Zivilgesellschaft und die immer umfassendere Verfolgung der Opposition damit, er sei nicht der Feind der Demokratie, sondern der Kämpfer gegen das Chaos, das ihm von Boris Jelzin hinterlassen habe. Er sei der Diener und Bewahrer der „guten Ordnung“. Putin täuschte eine Respektierung der Legalität vor, die er zu vergewaltigen beabsichtigte.

Das ist ihm vor allem in seinen Anfangsjahren an der Macht sogar so gut gelungen, dass er im Westen vielerorts als Reformer erschien, der nichts anderes im Sinn habe, als Russland nach einer Zeit im Innern nach einem Jahrzehnt der Wirren zu stabilisieren.

Malaparte hat diese „Technik“ schon vor fast 100 Jahren beschrieben. Auch nach dem kopflosen Anrennen Prigoschins versucht Putin es weiter mit dieser Masche. Zu befürchten ist, sie verfängt 25 Jahre nach seiner Machtübernahme immer noch.

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