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Draußen vor der Tür. Philippe Quesnes Stück „Garten der Lüste“ zeigt das Endspiel einer untergehenden Welt. 

© Christophe Raynaud de Lage

Theaterfestival Avignon: Klassenkampf und Krisenangst

Das Theaterfestival Avignon setzt auch in diesem Jahr politische Statements. Es beginnt mit einer Gedenkminute für den von einer Polizeikugel getöteten Nahel und präsentiert Inszenierungen, die von sozialen Krisen erzählen.

Von Eberhard Spreng

Zu Beginn des Festival d’Avignon im Papstpalast stellte sich Regisseurin Julie Deliquet mit dem neuen Festivaldirektor Tiago Rodrigues an die Rampe und bat die knapp Zweitausend im Publikum um eine Gedenkminute für den eine Woche zuvor bei einer Verkehrskontrolle getöteten Nahel. Avignon bleibt ein Festival politischer Manifestationen, die Eröffnungsinszenierung „Welfare“ setzte ein Statement.

Kampf um die Stütze

Die Chefin des Theater in der Problem-Banlieue Saint-Denis nimmt Partei für den Rand der Gesellschaft: die Armen, das Prekariat. Sie bringt einen 50 Jahre alten US-Dokumentarfilm auf die Bühne. Frederick Wiseman hatte in einem Sozialhilfebüro gedreht, die Verzweiflung, Verlorenheit, den Kampf um die Stütze in den Gesichtern seiner Protagonistinnen und Protagonisten eingefangen.

Alle im Kampf fürs Überleben, jeder und jede Anwalt der eigenen Sache. Alle müssen performen und überzeugen. Ein Fall für Theater, könnte man meinen. Aber Deliquet rückt die Akteurinnen und Akteure weit auseinander und zerstört im Exemplarischen die Faszination des Individuellen.

Deliquet will ein Theater, das seine kulturelle Daseinsvorsorge ernst nimmt, öffentlicher Dienst für die gute Sache. Aber welche? Während die einen öffentlich um Nahel trauern, legen die anderen ein mittlerweile millionenschweres Spendenkonto für den inhaftierten Polizisten auf. Es gibt keine französische Wirklichkeit mehr, es gibt nur Wirklichkeiten.

So etwas zu verstehen, hilft das Gastspiel „Baldwin and Buckley at Cambridge“. Die New Yorker Truppe Elevator Repair System reenacted ein Streitgespräch von 1965: „Existiert der amerikanische Traum auf Kosten des Schwarzen?“ Der Schriftsteller James Baldwin und der rechtskonservative Vordenker William F. Buckley argumentierten pro und contra.

Baldwins Ausführungen folgte das Publikum gebannt, strahlte doch aus dessen fast 70 Jahre alten Reflexionen ein Licht auf die brennende französische Wirklichkeit heute. Baldwin beschwor die Macht der unterschiedlichen Realitätssysteme, die ein Verstehen zwischen weißen Polizisten und schwarzen Straßenkämpfern unmöglich macht. Dieses Theater erinnert an ein tief liegendes Problem: das Nicht-In-Unserer-Welt-Sein der meist nordafrikanischen Diaspora in Frankreich.

Wie etablieren sich Macht und Gewalt? Diese Frage stellt David Geselson in seinem Stück „Neandertal“, das in Avignon uraufgeführt wurde. Eine Gruppe von Wissenschaftlern ist damit beschäftigt, in Knochenfunden DNA-Spuren zu finden und daraus die Vorgeschichte des Homo Sapiens zu erschließen. Verhandelt wird dabei auch die jüngere Geschichte Israels, etwa Benjamin Netanjahus Interesse an Genforschung als Argumentationsgrundlage für seine Politik. David Geselson, jüdisch-atheistischer Film- und Theatermacher, greift den jüdischen Fundamentalismus mit einer Schärfe an, die in Deutschland undenkbar wäre.

Stunde null im Steinbruch

Wie entsteht Realität, in einer Stunde-null-Situation in einer Terra Incognita? Das beantwortet Philipe Quesne in der Garrigue weit außerhalb der Stadt. Im Steinbruch von Boulbon kommt ein Kleinbus angerollt, geschoben von Leuten, die Zuflucht suchen, das Gelände erkunden, ein mannshohes Ei aufrichten und sich wie zur Andacht im Kreis aufstellen.

Verehren sie das Religionszeichen einer Zivilisation, die in einer ökologischen Katastrophe unterging? Das bleibt eine Frage, den dieser traumschöne „Jardin des Délices“ offen lässt. Das locker Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“ entlehnte Schauspiel ist zu jedem Zeitpunkt konkretes Theater, real und rätselhaft wie Boschs Gemälde.

Wir sehen, was wir sehen und fragen uns: Warum geschieht, was geschieht? Toll, dass die Inszenierung von den Berliner Festspielen eingeladen worden sein soll.

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