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Ein Zeichen der Stärke. Auf dem Times Square in New York City.

© Carlo Allegri/Reuters

Ein Zeichen des Respekts: Wie die Maske zum Symbol für Zivilität wurde

Die Mund-Nasen-Bedeckung ist in der Pandemie zum selbstverständlichen Accessoire geworden. Auch nach Covid wird sie vermutlich Teil unseres Alltags bleiben.

Ein großer Kenner nicht nur der Renaissance-Künste äußert kürzlich im Gespräch: „Ich wünsche mir, endlich wieder auf die Berliner Museumsinsel gehen zu können und über den Portalen die Aufschrift zu lesen: Der du hier eintrittst, lass alle Masken fallen!“

Ein schöner Wunsch, 700 Jahre nach Dantes Tod, in dessen „Göttlicher Komödie“ über dem Tor zum Inferno die Schrift zu lesen ist: „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!“ Denn gewiss lassen wir selbst in der Oberwelt von Corona nie alle Hoffnung fahren. Doch mit der künftig ersehnten Demaskierung hat es wohl seine eigene Bewandtnis.

So ist die Welle der Masken-Scherze abgeebbt. Kaum mehr sind in Parks die Statuen mit Mund-Nasen-Schutz zu sehen oder kursieren noch auf T-Shirts oder Postkarten die Versionen der maskierten Mona Lisa. Am charmantesten wirkt da ein Gemälde der in Kalifornien lebenden amerikanischen Künstlerin Christine Wang, das einem Kölner Sammler gehört und auch im Internet zu finden ist.

Cartoonartig, mit ein paar witzigen Strichen wird das Gesicht eines Mannes, der die Maske schlapp unter der Nase trägt, mit einem fast formgleichen Männerslip konfrontiert, bei dem, wie daneben die nackte Nase, der Pimmel außen über den Sliprand hängt. Dazu Wangs Bildlegende: „Wearing your face mask like this … Is like you wearing your underwear like this“.

Gerade Machos, die ihre Masken demonstrativ nur als Kinnschmuck tragen, werden hierüber vermutlich weniger lachen. Andererseits sieht man immer mehr Kinder mit bunten Masken. Erstaunlich fröhlich, weil sie sich derart erwachsener fühlen.

Die Maske wird auch in der Post-Covid-Ära nicht verschwinden

Zwar träumen wir gerade im ausbrechenden Frühling und mit jedem wärmeren Sonnenstrahl vom befreienden Masken-Fall. Dennoch, aus einer Insignie des Krieges, des Karnevals oder der Kriminalität ist die Gesichtsmaske binnen eines Jahres zu einem fast selbstverständlichen Accessoire der Zivilität und des gegenseitigen Respekts geworden.

Nicht im Inferno, eher als himmlischer Geist könnte sich auch der französische Philosoph Roland Barthes freuen, wenn jemand seine berühmten, vor 65 Jahren entstandenen „Mythen des Alltags“ ein wenig fortschreiben würde. Um zu den damals verhandelten Phänomenen wie „Einsteins Gehirn“, „Striptease“ oder „Plastik“ nun auch die textile Virenabwehr zu zählen.

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Tatsächlich wird die Maske aus unserem Alltag wohl auch in der Post-Covid-Ära nicht mehr gänzlich verschwinden. In Israel, wo bereits große Teile der Bevölkerung erfolgreich geimpft sind, dürfen die Masken draußen jetzt wieder fallen. Aber auch im hedonistischen Tel Aviv, dessen junge Szene mit Berlin vor der Pandemie viel Kontakt hatte (aber das anders als Taschkent oder Windhuk keine offizielle Partnerstadt ist, warum?), haben selbst die befreit Feiernden ihre Maske meist noch dabei.

Und ein Erfolg des von Querköpfen oder Typen wie Trump und Bolsonaro so verachteten Mund-Nasen-Schutzes ist letztlich auch: dass alle anderen grippalen Infekte und saisonalen Erkältungskrankheiten im vergangenen Herbst und Winter fast völlig verschwunden sind. Es gibt nicht nur (fast) keine Maikäfer mehr. Es gibt auch keine Rotznasen mehr.

Die Gefahr des Hygienewahns

Folglich lässt sich zumindest für die nähere Zukunft erwarten, dass zum Beispiel in den Warteräumen von Ärzten und Ämtern, womöglich auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln während der schon vor Corona virenreichen Jahreszeiten Masken verlangt – und gar selbstverständlich werden. Nicht nur Covid ist ja mit höchster Wahrscheinlichkeit aus Fernost gekommen, es zieht hier im Zug der Globalisierung auch sonst ein Stück Asien über Stäbchen und Sushi, Toyota und Ginseng hinaus in unseren Alltag ein.

Allerdings gibt es auch das: den Hygienewahn. Moderne Hygiene ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die wachsenden Großstädte immer mehr zu Seuchenherden wurden, so recht eigentlich in Deutschland erfunden worden.

Robert Koch war der führende Infektionsforscher und Mikrobiologe, von ihm lernten Mediziner, Hygieniker, Bakteriologen aus aller Welt, und 1891 hat er in Berlin das Institut gegründet, das 130 Jahre später unter nunmehr seinem Namen auch Deutschland gerade mitregiert. Seit Koch & Co. hat der Infektionsschutz ungeahnte Entwicklungen erfahren, besonders in den USA ist er bis zum Kult eines möglichst aseptischen Alltags gesteigert worden. Allerdings hat immer mehr künstliche Immunabwehr zugleich die natürlichen Abwehrkräfte von Menschen geschwächt.

Ein Beispiel ist Indien. Das bevölkerungsreichste Land der Erde mit vergleichsweise niedrigen Hygienestandards in seinen dicht gedrängten Vielmillionenstädten verzeichnet die weltweit mit Abstand meisten Covid-19-Neuinfektionen, einschließlich der neuen indischen Variante (B.1.617). Aber es wurden in Verbindung mit der Pandemie bisher in Indien, Stand 20. April, nur 13 Todesfälle pro hunderttausend Einwohner registriert (Deutschland zum Vergleich: 96, die USA 172, Italien 195, Tschechien 267).

Der Fortschritt trägt seinen Januskopf

Hierzu eine persönliche Anekdote: Als ich vor gut dreißig Jahren bei einem Aufenthalt in Calcutta den damals berühmten, bei der Berlinale und in Cannes vielfach preisgekrönten indischen Filmregisseur Mrinal Sen in seinem Haus besuchte, fragte Sen, ob er mir einen Tee anbieten könnte. Als Europäer hatte ich gerade sehr typische Magendarmprobleme, und Sen durchschaute sogleich meine zögernde Antwort.

„Oh, keine Sorge, das Teewasser wird bei mir immer dreimal abgekocht. Und wissen Sie“, fuhr er fort, „vor ein paar Jahren hatte mich hier auch Francois Truffaut besucht. Er erzählte mir, dass er beim Duschen in seinem Grandhotel sogar eine Gesichtsmaske trägt, um nur keinen Tropfen unseres Wassers in Mund oder Nase zu kriegen.“ Worauf Mrinal Sen damals mit einem Lächeln anfügte: „Aber jetzt ist Truffaut schon tot, und ich lebe immer noch!“

So trägt der Fortschritt von Mal zu Mal seinen Januskopf. Vorsicht ist geboten, Hygieneregeln sind im Prinzip gut. Doch die Sehnsucht nach Entregelung wächst, nach mehr Kontakten, mehr Sinnlichkeit, nach dem Off-Off, weg von zu Hause, vom Home und Office. Trotz dieses nur allzu menschlichen Wunsches, wirkt freilich der Streit gerade um die neuen Ausgangsregeln beim Infektionsschutzgesetz wie inszeniert. Ohnehin fragt man sich, wer was eigentlich verpasst, der in Städten derzeit noch nach 22 oder 24 Uhr etwas unternehmen will. Zumindest ist die Luft dann ziemlich rein.

Die neueste Wendung ist nun, dass das wegen allerlei „Politikversagen“ in der Krise inzwischen mehr rituell als immer rational gescholtene Deutschland von Fachleuten dank Biontech, Curevac und anderen schon zum Spitzenreiter der Vakzin-Entwicklung und neuer Biotechnologien erklärt wird. Robert Kochs Erben. Sie vertragen auch mal ein hoffnungsvolleres Gesicht. Mit und ohne Maske.

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