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Die deutsche Mittelschicht fühlt sich vom Staat mitunter im Stich gelassen.

© Foto: Friso Gentsch/dpa

Ein Lob der Gießkannenpolitik: Es ist gut, wenn auch die Mittelschicht etwas bekommt

Ob 49-Euro-Ticket, 300 Energiegeld oder Gasrechnungsübernahme: Die Entlastungmaßnahmen der Regierung werden oft als sozial ungerecht kritisiert. Zu Unrecht.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Die Kritik an der Grundsatzeinigung auf ein 49-Euro-Ticket für den gesamten deutschen Nahverkehr kam prompt. Moniert wurde neben der ungeklärten Finanzierung und Infrastrukturmängeln die fehlende soziale Komponente. 49 Euro seien zu viel, um der armen Bevölkerung einen Vorteil zu verschaffen, wurde beklagt: Der Nachfolger des erfolgreichen Neun-Euro-Tickets werde wohl vor allem der Mittelschicht nützen.

Das ging ein Stück in die Richtung, die CDU-Chef Friedrich Merz anlässlich des sogenannten Energiegelds auf die Formel gebracht hatte: Lieber 1000 Euro für die Armen als 300 Euro für alle.

Die Frage, wer geben und wer nehmen soll, stellt sich nahezu täglich in Zeiten, die von Kriegssorgen, Energieknappheitsszenarien und Inflationsanstieg geprägt sind, denn die Kennzahlen und Abgrenzungen verschieben sich. In ruhigeren Zeiten wurden Verteilungsfragen im Mahlstrom sozialpolitischer Belange eher rituell gefestigt behandelt.

Mehr Geld für die Armen oder weniger Abgaben für die Wohlhabenderen

Die einen forderten dauernd mehr Zuschüsse für die Armen, die anderen dauernd weniger Abgaben für die anderen, und alle zusammen geißelten das Gießkannenprinzip, also das Ausschütten von Wohltaten über alle, als Ausbund bürokratischer Beschränkt- und politischer Denkfaulheit.

Heute kann man das auch anders sehen. Das Gießkannenprinzip sorgt aktuell dafür, dass auch bei denjenigen, die mittlere oder auch höhere Einkommen haben, außerplanmäßig etwas eingeht. Sicherlich waren die 300 Euro Energiegeld, die mit dem Septembergehalt überwiesen wurden, bei vielen nicht entscheidend, manchen mögen sie in der Nettosumme kaum aufgefallen sein, aber sie wurden sicher registriert. Man könnte diesen kleinen Bonus sehen als ein Dankeschön für die vielen Steuern und Sozialabgaben, die Monat für Monat von diesen Gehältern abgezogen werden.

So ein Dankeschön kann man überflüssig finden und sich gar überlegen, welche Abgaben man womöglich erhöhen könnte. Aber es darf bezweifelt werden, dass die Zeit dafür die richtige ist. Ein Dankeschön ist viel eher fällig und nötig, denn die sogenannte Mittelschicht, die sich ohnehin oft als staatliches Melkvieh sieht, wird durch die aktuelle Lage ebenfalls besonders belastet.

Und es sind weiterhin vor allem ihre Gehälter, die das Gemeinwesen finanzieren, und dafür sorgen, dass auch bei denen, die nicht arbeiten, die Wohnung warm bleibt.

Die vielen Abgaben stoßen immer saurer auf

Lange wurden die Brutto-Netto-Diskrepanzen im Melkviehstall damit belohnt, dass die dort Versammelten sich abgesichert fühlen konnten. Aber es stößt immer saurer auf, wenn auch dort nur Verunsicherung, Einschränkungsszenarien oder bevormundende Sparvorschläge aus der Politik winken.

Wenn von aktuellen politischen Maßnahmen auch die Mittelschicht profitiert, ist nicht per se ein Grund, „Ungerecht!“ zu schreien. Zur Gerechtigkeit kann durchaus gehören, auch jenen mal etwas zu geben, die still und unsichtbar vor sich hinwerkeln, um die Rechnungen zu begleichen. Und diese Rechnungen – nicht zu vergessen – türmen sich mit jedem Entlastungspaket immer höher.

Sicher werden 300 Euro hier, eine übernommene Gasrechnung da oder eine billigere Fahrkarte das Leben vieler nicht groß ändern, aber es könnte die Bereitschaft erhalten helfen, ohne Murren und Meckern weiter mitzumachen. Auch darauf kommt es in der Krise an.

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