zum Hauptinhalt
Meinung am Sonntag

© Illustration: Martha von Maydell für den Tagesspiegel

Was heißt hier Arbeit?: Wenn ich in der Freizeit über den Job nachdenke

Die kommende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kann helfen, den riesigen Graubereich zwischen Im-Dienst und Außer-Dienst auszuleuchten. Nötig ist es.

Ein Essay von Ariane Bemmer

Wo ist der Unterschied: Ich gehe an einem Sonnabend spazieren und denke über eine Sendung im Deutschlandfunk zum Thema Arbeitszeiterfassung nach und überlege: a) wie ich die interessanten Aspekte einer Freundin übermitteln könnte, die ich für burnoutgefährdet halte. b) wie ich daraus einen interessanten Text für den Tagesspiegel machen könnte.

Klar dürfte sein, dass die gedankliche Befassung mit der Sendung im Fall a) eine rein private Anstrengung ist. Aber wie sieht es im Fall b) aus? Ist das Nachdenken über die Sendung mit dem Ziel, etwas Arbeitsrelevantes daraus zu machen, Arbeit? Und wenn ja, sollte ich mir für einen einstündigen, gedankenreichen Spaziergang eine Stunde Arbeit aufschreiben dürfen?

Klingt vielleicht etwas übertheoretisch - ist aber mit einem Entscheid des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September auch praktisch ein Thema. Seit dem BAG-Spruch, der absehbar war, weil er ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019 auslegt, stehen Betriebe in Deutschland vor der Aufgabe, Arbeitszeiten ohne Wenn und Aber zu erfassen.

Was genau muss alles erfasst werden?

Bisher gab es so eine Pflicht nur für Überstunden und Arbeit an Sonn- und Feiertagen. Geklärt werden muss jetzt aber noch, wie so eine regelhafte Arbeitszeiterfassung funktionieren soll und damit letztlich auch, was genau alles Arbeit ist und also auch erfasst werden muss.

Das Arbeitszeitgesetz definiert Arbeitszeit als die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen und regelt im Weiteren detailreich, was geht und was alles nicht. Die Regelungen lassen sich auf Tätigkeiten, die die physische Anwesenheit der Beschäftigten an einem bestimmten Ort erfordern, vergleichsweise leicht anwenden.

Wer wie lange am Büroschreibtisch oder an der Kasse sitzt, in der Werkstatt, dem Labor oder der Praxis herumwerkelt, lässt sich durch Ein- und Auschecken bestimmen, und so geschieht das auch hunderttausendfach Tag für Tag im Land.

Aber wie ist es mit Homeoffice, mit mobilem Arbeiten in IT-gestützten Dienstleistungs- oder Wissensberufen, wie mit der sogenannten Vertrauensarbeitszeit, die das Arbeitsziel festlegt und nicht den arbeitszeitlichen Weg dorthin? In diesen Bereichen gibt es zwischen Dienst und Nicht-Dienst viel Undefiniertes, Schemenhaftes, eine klare Grenze ist nicht immer leicht ziehen.

Was ist Arbeit, wo fängt sie an, wo hört sie auf? Auf dem Fachportal Haufe.de hat der Tarifrechtsexperte und Jurist Professor Klaus Hock notiert, dass Arbeit jede Tätigkeit sei, die als solche der Befriedigung eines „fremden Bedürfnisses“ diene. Damit ist ein zentrales Begriffspaar genannt.

Arbeitnehmende behandeln die Interessen der Arbeitgeber, als seien es ihre eigenen

Die moderne Arbeitswelt hat es geschafft, dass viele Arbeitnehmende die Interessen und Ziele des Arbeitgebenden über die Maßen als ihre eigenen annehmen. Und sie finden darin auch etwas für sich, und sei es das Gefühl, nützlich zu sein und gebraucht zu werden.

Kapitalismuskritiker sprechen von Selbstausbeutung. Anderen ist das Wort zu krass, meist jenen, die in dieser Logik feststecken, denn wer sieht sich selbst schon gern als ausgebeutet an? Aber vermutlich erkennen auch sie, wenn sie sich trauen, dass diese „Bedürfnisübernahme“ kaum zu ihren Gunsten enden wird.

Wie Hock weist auch die britische Philosophin Amelia Horgan auf die Trennlinie zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen hin. Sie schreibt in ihrem aktuellen Buch „Lost in Work. Dem Kapitalismus entkommen“, dass die Gesellschaften sich in zwei Gruppen aufteilen ließen, die aus „jenen, die ihre Lebenszeit verkaufen, und jenen, die diese kaufen und davon profitieren“ bestünden.

Das nicht aus den Augen zu verlieren, sei wichtig, „weil diese grundlegende Tatsache, die unser Leben bestimmt und unser Wirtschaftssystem definiert, so oft ignoriert wird“.

Am Ende der Selbstausbeutung.

© imago/Westend61 / Rainer Berg

Und wenn nicht ignoriert, so zumindest ausgeblendet. Anders lässt sich die regelrechte Allgegenwart von Dienstlichem im Privaten kaum erklären, diese dauernde Erreichbarkeit für berufsrelevante Nachfragen, dieses Sich-zuständig-Fühlen für Projekte, Planungen oder auch nur die Beantwortung von Mails weit über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus.

Und zwar nicht nur in den allerobersten Etagen der Unternehmen (wo Arbeitszeiterfassung nicht vorgesehen ist) oder den oberen (wo zum Ausgleich viel gezahlt wird), sondern auch in den unteren. In der Schweiz, wo es eine Arbeitszeiterfassungspflicht bereits gibt, hat man das eingepreist.

Horgan beobachtet eine „Jobifizierung“ des Alltagslebens

Dort kann über einem Jahresgehalt von 120.000 Franken unter Umständen von der Erfassung abgesehen werden. Darunter nicht. Vielleicht wäre das auch ein Modell für Deutschland, denn es gilt doch, vor allem die weniger hochrangigen Mitarbeitenden zu schützen, ob vor Fremd- oder Selbstausbeutung.

Tatsächlich dürfte in manchen Berufsfeldern Letzteres bereits das größere Problem sein. Amelia Horgan beobachtet eine regelrechte „Jobifizierung“ des Alltagslebens: Hobbys und Interessen würden als etwas betrachtet, das zu Geld gemacht werden könne, sogar sollte.

Dabei geht es ihr zwar nicht konkret um Arbeitszeiterfassung, sondern vor allem um Berufe, die mit den Sozialen Medien zu tun haben, voran Influencer, Youtuber und Ähnliche, aber dennoch wird klar, wo das Problem liegt: in der erodierenden Abgrenzbarkeit. Oder ist es nur die unterlassene Abgrenzung? Und unterlässt man die, weil die zu anstrengend würde?

„Jobifizierung“ des Lebens - oder: Alles könnte via Display zu Geld gemacht werden.

© Getty Images/iStockphoto

Die kommende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung hat jedenfalls auch bei vielen Beschäftigten zu Stirnrunzeln geführt. Sie fragen: „Wie soll das denn gehen?“ und befürchten umständliche Regelungen und Dokumentationspflichten, die zu noch mehr Arbeit führen werden, wo man jetzt schon kaum genug Zeit für all das hat, was in der verdichteten Arbeitswelt ohnehin zu tun ist.

Dieser Abwehrreflex kann als weiterer Hinweis darauf verstanden werden, wie weit die Grenzauflösung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit fortgeschritten ist. Arbeitnehmende und -gebende fühlen sich gleichermaßen gestresst und genervt von der neuen Pflicht. Das ist verrückt, denn sie stehen nicht auf derselben Seite des Flusses, sondern auf gegenüberliegenden. Die Pflichten der einen sichern die Rechte der anderen und umgekehrt.

Der Arbeitsrechtler fragt nach einer Neudefinition von Arbeit

In der Radio-Debatte, die mich bei meinem Spaziergang beschäftigt hat, sagt der Arbeitsrechtsexperte Philipp Byers von der Kanzlei Watson Farley & Williams, München, das neue Urteil werde dazu führen, dass die Gesellschaft sich mit der Frage befassen müsse, was genau Arbeit sei. Er fragte, ähnlich wie in meiner Spaziergangsfrage, was sei, wenn man private Lektüren für Newsletter-Ideen nutze.

Und könnte man so nicht beliebig weitermachen? Da ist der Personalberater, der Menschen, die er privat kennenlernt, auf potenzielle Brauchbarkeit für eine Vermittlung abcheckt. Die Beschäftigte der Modebranche, die überall nur Inspiration für neue Schnitte registriert. Da sind die Gag-Schreiber und Serienautoren, die im Geist mitschreiben, was in der Kassenschlange vor ihnen geredet wird. Die Marketingprojektleiter, die überall und immerzu daran denken, dass die Kampagne für ein neues Produkt hängt, und was sie noch alles tun müssen.

Es gibt viele Zwittertätigkeiten zwischen Im-Dienst und Außer-Dienst

Diese ganzen vielen Zwittertätigkeiten zwischen Im-Dienst und Außer-Dienst. Die brauchen doch einen Platz in der kommenden Arbeitszeiterfassungspflicht. Aber wo ist der?

Die Gesellschaft brauche eine neue Definition von Arbeit, sagte Anwalt Byers. Und hat er nicht recht? Was ist Arbeit, was macht sie aus? Man könnte beschließen, dass Nachdenken über ein Problem nur dann Arbeit ist, wenn man dabei am PC sitzt.

Das wäre ziemlich eng gefasst und passte auch nicht zu der Tatsache, dass kaum infrage gestellt wird, was genau Menschen machen, die im Büro sind. Man kann schließlich stundenlang körperlich anwesend sein, ohne irgendetwas zu schaffen. Ist das dann Arbeit? Wohl eher nicht.

Technisch wäre es längst möglich, outputlose Trödelphasen nachzuweisen, praktisch jedoch findet eine dafür nötige Überwachungssoftware in Deutschland schnell ihre Grenzen im Datenschutz. Anders in den USA, was - das am Rande - dem Slogan vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine durchaus gruselige Note verleiht.

Auf der Suche nach der Definition von Arbeit, die vielleicht auch Anwalt Byers passen würde, habe ich auch diesen Satz gehört: „Man weiß selbst, ob es Arbeit ist.“ Und klar, wenn ich bei einer Partyunterhaltung Interessantes und Relevantes erfahren habe, käme ich kaum auf die Idee, das als Arbeit zu betrachten.

Anders sähe es vielleicht aus, wenn ich dort wichtige Personen treffen würde und aus strategischen Gründen mit ihnen in einem berufsadäquaten Ton spreche, statt weinselig auf der Tanzfläche herumzuschlenkern.

Irgendwann muss Schluss sein.

Bernd Rützel, SPD-Bundestagsabgeordneter

In der Radiodebatte wurde einem Neudefinitions-Ansinnen vom SPD-Bundestagsabgeordneten Bernd Rützel widersprochen, der Vorsitzender des Arbeits- und Sozialausschusses ist.

Der wollte einem Dauer-Nachdenken über Arbeitsrelevantes keinen Vorschub leisten, dieser „jobifizierenden“ Bereitschaft so vieler, ihr Leben komplett unreguliert in den Dienst beruflicher Zwecke zu stellen. Rützel sagte: „Irgendwann muss Schluss sein.“ Es brauche Pausen, es brauche Auszeiten, sonst gingen die Menschen nämlich kaputt.

Interessanterweise nervte Rützel mich mit dieser Entschiedenheit. Vielleicht, weil sein unterfränkischer Akzent so unerbittlich klang. Vielleicht aber auch, weil ich eine gewisse Form von Dauerbetriebsbereitschaft ebenfalls für normal halte.

Und werden Arbeitsexzesse, ob von Kriminalisten, Journalistinnen, Anwältinnen, Politikern und Lehrerkräften, nicht auch in zahlreichen Filmen, Serien, Romanen ständig glorifiziert? Nächtelanges Aktenfressen, Tag- und Nacht-Recherchen, immer im Einsatz für was auch immer?

Vielleicht hat die Entschiedenheit, mit der Bernd Rützel einen Schlussstrich verlangte, genervt, weil es mir vorkam, als würde er dem Umgang mit der Arbeit ein Stück Freiheit nehmen. Nämlich die eigene Entscheidung darüber, ob man sich außerdienstlich um dienstrelevante Inhalte kümmern möchte.

Wer sich überarbeitet, liegt am Ende der Allgemeinheit auf der Tasche

Die hat er basta-haft abgeräumt: Schluss soll sein, Feierabend, Punkt, Aus. Wer sich daran nicht halte, das sagte er auch, liege am Ende berufsunfähig der Allgemeinheit auf der Tasche. Also das Gegenteil von Heroismus.

So gesehen könnte die neue Pflicht zur Arbeitserfassung vielleicht ein Hebel werden, mit dem die Arbeitszeitentgrenzung gestoppt wird. Weil die Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit wieder gefunden und gezogen und dann auch respektiert werden muss.

Es sollte vielen Arbeitnehmenden schwerer fallen als jetzt noch, sich permanent im Dienst zu sehen, wenn sie sich dabei regelhaft vergegenwärtigen müssen, dass ihr Arbeitgeber diese Zeiten nicht als Arbeit anerkennt und auch nicht bezahlen wird.

Arbeit könnte in der Folge vom Lebenssinn und -inhalt wieder etwas mehr zurückgestutzt werden auf eine Erwerbsquelle, der man das Private weder ausliefert noch unterordnet. Und wenn jetzt ein leichtes Stirnrunzeln darüber entsteht, woraus dieses Private denn genau bestehe, dann könnte man zu glauben anfangen, dass viel nötiger als eine Neudefinition von Arbeit eine Neudefinition davon wäre, was Freizeit ist und ausmacht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false