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Kinder auf dem Weg ins Helmholtz-Gymnasium in Potsdam

© Ottmar Winter PNN

Schule auf, Schule zu: Der Inzidenzwert-Fetisch verhöhnt die Menschen

Das Land nähert sich nicht sehr überraschend dem Inzidenzwert 100. Sollen Schulen, die gerade erst geöffnet wurden, mit Schließung dafür zahlen? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Wer in der Schule mal eine Programmiersprache lernen durfte, bekam es dabei wahrscheinlich auch irgendwann mit der Befehlszeile „If – go to“ zu tun. Für „If“ wurden Bedingungen formuliert, bei deren Eintreten eine vorgegebene Reaktion – „go to“ – erfolgen musste. Und wie war es schön, wenn das auch funktionierte.

Bei der Bekämpfung der Coronapandemie wurden ebenfalls „If – go to“-Zeilen programmiert. Und vielleicht hat sich auch hier jemand ausgemalt, wie schön es wird, wenn sich dadurch eine herrliche Ordnung einstellt. Doch so wird es schwerlich kommen.

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Das „If“, auf das Deutschland nicht sehr überraschend weiträumig schon wieder zusteuert, ist die Zahl 100. Jener Inzidenzwert, ab dem eine „Notbremse“ gezogen werden soll, so hieß es zuletzt, also ein Zurück zu alten Lockdownregeln.

Doch dieser Aufruf zur „Go to“-Reaktion ergeht anders als in der Computersprache im Corona-Alltag nicht an Zahlen, sondern an Menschen. Und mit Menschen geht so etwas nicht.

Astrazeneca sollte an Lehrerinnen und Lehrer verimpft werden - ausgerechnet

Besonders augenfällig ist das, was die Schulen angeht. Aus einigen Bundesländern gab es bereits wieder Meldungen von kurzfristigen Schulschließungen. Klingeln bei den Familien dort morgens inzwischen statt Weckern eigentlich Inzidenz-Melder?

Aus Berlin heißt es, es gebe keinen Inzidenzwert-Automatismus. Der Plan allerdings, die Klassen 7 bis 9 bis Ostern zumindest einmal in die Schule zu lassen, ist schon wieder vom Tisch. Wie deprimierend für alle, die sich davon etwas versprochen hatten.

[Mehr zum Thema: Nebenwirkungen – der Vergleich von Astrazeneca und der Pille hinkt (T+)]

Man sollte weder Schülerschaft noch Lehrkräfte oder Verwaltungspersonal nach „If – Go to“-Befehlen herumschicken, sie kurz auf dem Schulhof ein paar Freudentränen vergießen lassen, und dann, weil es nun mal so programmiert ist, wieder aussperren. Zumal die Fetischisierung des Inzidenzwerts die anderen Möglichkeiten zur Pandemieeindämmung unterbuttert, die es inzwischen gibt.

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Die Stichworte sind bekannt: Luftreinigungsgeräte, Test- und Impfstrategie. Eine Strategie ist etwas Komplexeres als das primitive „If – go to“, aber gleichwohl möglich. Andere Länder machen es vor.

Dass mit dem Stopp der Verimpfung des Astrazeneca-Vakzins ausgerechnet das Teil aus der dürftigen Krisenbegegnungsplanung fällt, das die Schulen betrifft (weil es an Lehrerinnen und Lehrer verimpft werden sollte), ist eine bittere Ironie.

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Aber nicht die einzige: Über neuerliche Schulschließungen jenseits von 100er Inzidenzen auch nur nachzudenken, während gleichzeitig Impfzentren an Wochenenden geschlossen sind, und Ärzte, die Hilfe zu allen Tag- und Nachtzeiten anbieten, ihre Namen auf Wartelisten notieren dürfen, verhöhnt die Lage – und die Menschen, die tagtäglich mit den Folgen umgehen müssen.

Über neuerliche Schulschließungen jenseits von 100er Inzidenzen nachzudenken, während gleichzeitig Buchungsportale für die neuerdings wieder möglichen Mallorcareisen heißlaufen, spottet ohnehin jeder Beschreibung.

Urlaube am Strand sind sicher schön, aber anders als Schule und Bildung nicht von elementarer Bedeutung. Über die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen durch die schulfreien Monate ist inzwischen viel geschrieben worden, wenn auch ohne großen Nachhall in den befassten Gremien.

Oder ist das Überhören nur eine neue Form der allgemeinen Ignoranz gegenüber den Bildungsbelangen? „If“: Nein – „Go to“: Schulen bleiben offen.

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