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Teilnehmer an einer Pro-Palästina-Kundgebung in Berlin

© dpa/Paul Zinken

Kampf gegen Antisemitismus: Nichts zu verbieten heißt nicht, nichts zu tun

Ob Demo-Verbote oder Pflichtbekenntnisse zu Israel – manche Forderungen aus der Politik sind leichtfertig und schädlich für den freiheitlichen Rechtsstaat.

Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Ob der deutsche Antisemitismus des Jahres 2023 schlimmer ist als der, den Jüdinnen und Juden in früheren Jahren der Bundesrepublik erlitten, können am besten Menschen sagen, die letzteren erlebt haben und vergleichen können. Messen kann man ihn schlecht. Straftatenzahlen bieten Hinweise, aber keine Evidenz; Gleiches gilt für Umfragen.

Fest steht wohl, dass der deutsche Antisemitismus seine Erscheinungsform ändert. Er ist internationaler und politischer geworden, palästinensischer und arabischer – migrantischer. Zugleich unterströmt er jene – möglicherweise wachsende – gesellschaftliche Schicht, die sich ohnehin im Widerstand zu einer finsteren Weltverschwörung wähnt. Der deutsche Antisemitismus ist diffuser geworden.

Die Kontinuität des deutschen Antisemitismus ist abgelöst

Damit ist die Kontinuität des Antisemitismus von Nazis über Altnazis zu Neonazis abgelöst. Für seine Bekämpfung eine schlechte Nachricht. Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, heißt es. Die Wirklichkeit des Antisemitismus lässt sich immer schwerer erfassen. Noch schwerer wird, sie zu beschreiben. Wer Zusammenhänge sucht, macht sich der Relativierung verdächtig. Wer sie weglässt, stellt sich blind.

Das ist die Situation, in der Politiker Forderungen nach Pauschalverboten pro-palästinensischer Demos platzieren oder, wie sie jetzt in der Union laut werden, nach einem Straftatbestand, der die Leugnung des Existenzrechts Israels verbietet. Auch von einem Pro-Israel-Bekenntnis bei der Einbürgerung ist die Rede.

Verbote und Pflichten. Was wirkt wie eine entschlossene Reaktion, ist Ausdruck von Ratlosigkeit. Die Verbotsroutinen bei Pro-Palästina-Demos lassen bereits jetzt daran zweifeln, ob Behörden (und Gerichte) das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit hinreichend gewichten. Die anderen Ideen erscheinen befremdlich naiv und sind in der Bedenkenlosigkeit, in der sie geäußert werden, ein Schaden für die Demokratie.

Dem Staat Israel außenpolitisch mit Schutz und Hilfe zur Seite zu stehen, ist ein historischer Auftrag für jede deutsche Regierung. Bürgerinnen und Bürger dafür in die innenpolitische Pflicht zu nehmen, läuft hingegen auf Bevormundung hinaus und ruft Widerspruch selbst dort hervor, wo vorher keiner war. Die trotz allem große Einigkeit der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Antisemitismus ist zu wichtig, um sie zu riskieren.

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