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Nicht wegsehen. Kinder, die Opfer sexueller Gewalt sind, brauchen dringend Hilfe.

© imago/Rolf Kremming/IMAGO/rolf kremming

Missbrauchsverdacht bei Kindern: Familienministerin fordert, dass Erwachsene aktiv einschreiten

Im vergangenen Jahr wurden 17.168 Kinder unter 14 Jahren Opfer sexuellen Missbrauchs. Mit einer Kampagne will Lisa Paus Erwachsene darüber aufklären, was sie dagegen tun können.

Auf einem blauen Sofa ein Kissen mit gestickten Augen darauf. Daneben ein Regal mit Kinderspielzeug, auf dem Boden Turnschuhe in Kindergröße. Es ist der Blick in ein typisches Kinderzimmer, dargestellt auf einem Plakat, aber der Schriftzug passt nicht zur unschuldigen Atmosphäre. „Schieb Deine Verantwortung nicht weg“, steht in großen gelben Buchstaben darauf.

Vor dieser Botschaft sitzen Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs, Kerstin Claus. „Erwachsene sollen Verantwortung übernehmen, wenn sie einen konkreten Verdacht auf Missbrauch oder zumindest eine starke Vermutung haben, sie sollen nicht wegschauen“, erklärt Paus.

Zweite Kampagne gegen Missbrauch wird vorgestellt

Deshalb haben sie und Kerstin Claus am Montag im Familienministerium die zweite Kampagne gegen Missbrauch gestartet. In der ersten, vor einem Jahr, ging es darum, die Menschen für die Thematik Missbrauch stärker als bisher zu sensibilisieren. Jetzt sollen die Erwachsenen aktiv Kindesmissbrauch bekämpfen.

Täter gehen perfide vor, sie impfen den Opfern Schuldgefühl ein. Kinder offenbaren sich deshalb nicht.

Lisa Paus, Bundesfamilienministerin

Weil dazu „niemand ein Experte sein muss“, wie Kerstin Claus betont, gibt es eine Flut von Informationsmaterialien für den Umgang mit dem Thema. In Broschüren werden Tipps gegeben und telefonische Hotlines und Adressen von lokalen Beratungsstellen aufgeführt. Ein Schwerpunkt der Kampagne liegt in der Stärkung lokaler Netzwerke und kommunaler Initiativen. TV-Spots, Plakate, Social-Media-Angebote weisen darauf hin.

17.168 Kinder unter 14 Jahren sind 2022 Opfer geworden

Wie drängend das Problem ist, zeigt der aktuelle Lagebericht des Bundeskriminalamts, der am 30. Oktober veröffentlicht wurde und aus dem Lisa Paus zitiert. 2022 wurden 17.168 Kinder unter 14 Jahren zu Opfern sexuellen Missbrauchs. Darunter sind häufig auch sehr junge Kinder. Polizistinnen und Polizisten hatten in fast jedem siebten Fall Opfer identifiziert, die noch nicht sechs Jahre alt sind. Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren waren in 1211 Fällen Opfer sexuellen Missbrauchs, so ist es dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher liegen. Lisa Paus nannte die Zahlen „erschütternd“.

Die meisten Taten geschehen innerhalb der Familie oder im sozialen Nahbereich der Opfer. „Täter gehen perfide vor, sie impfen den Opfern Schuldgefühle ein. Kinder offenbaren sich deshalb nicht“, sagt Paus.

Viele Erwachsene schieben aus Unsicherheit Verantwortung von sich

Und zu viele Erwachsene schöben schnell Verantwortung von sich, weil sie nicht wüssten, wie sie mit Kindern und Jugendlichen über sexuellen Missbrauch reden sollten. Dabei, sagen Lisa Paus und Kerstin Claus, sind die Antworten einfach. Material dazu gebe es genug. „Ich muss aber vorbereitet sein“, sagt die Ministerin. Man solle die lokalen Beratungsstellen kennen, man solle aktiv auf Kita und Schulen zugehen. Und vor allem: Diese Informationen soll man sich besorgen, bevor man konkret mit einem Fall konfrontiert sei.

Ein Umdenken sei nötig, sagt Kerstin Claus, nur so könne man Kinder und Jugendliche besser schützen. „Der bequeme Gedanke ,Da wird schon nichts sein’, soll ersetzt werden durch: ,Ich weiß, wo ich Hilfe und Ratschläge bekomme, ich weiß, wo die Experten sitzen.’“

Hinter den Depressionen von Kindern kann das Thema Missbrauch stehen

Ein Besuch bei diesen Experten ist offenbar auch für einige Kinder- und Jugendtherapeuten nötig. Kerstin Claus ist sich sicher, dass einige von ihnen nicht erkennen, dass Missbrauch im Spiel sein kann, wenn sie Kinder, zum Beispiel, wegen Depressionen, behandeln.

Und weil sehr viele Fälle nicht bekannt werden und das Dunkelfeld mutmaßlich enorm groß ist, plädiert die Unabhängige Beauftragte für ein Zentrum, in dem dieses Dunkelfeld zumindest teilweise ausgeleuchtet wird. Als Mittel dazu soll eine bundesweite, sensible Befragung von Schülern der neunten Klassen dienen. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sitzt in jeder Schulklasse mindestens ein Opfer sexueller Gewalt.

Beauftragte für Kindesmissbrauch will Berichtspflicht gegenüber Bundestag

Die so ermittelten Zahlen könnte Claus dann dem Bundestag mitteilen. Diese Möglichkeit führt sie zu ihrem großen Anliegen: Das Amt der Unabhängigen Beauftragten soll auf eine bessere gesetzliche Grundlage gestellt werden, fordert sie. Damit könnten die Aufgaben des Amtes verbindlicher geregelt werden. „Eine Berichtspflicht an den Bundestag ist ein wesentlicher Baustein der gesetzlichen Verankerung“, sagt Claus.

Ihrem Ziel ist sie schon sehr nahe. Die dafür zuständige Ministerin Paus jedenfalls erklärt, dass sie den entsprechenden Gesetzentwurf so gut wie fertig hat. „Noch im November soll er in die Ressortabstimmung.“ Anfang nächsten Jahres soll das Gesetz über das Amt der Unabhängigen Beauftragten verabschiedet werden.

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