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Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro

© Foto: Reuters/Adriano Machado

Präsidentschaftsduell mit Lula: „Auch wenn Bolsonaro abgewählt wird, wird der Bolsonarismus Brasilien noch lange beschäftigen“

Die Umfragen deuten in Brasilien auf einen Sieg von Lula. Doch die menschenverachtende Politik Bolsonaros wird nachwirken, sagt Niklas Franzen, Autor und Beobachter der Neuen Rechten.

Herr Franzen, in Ihrem Buch greifen Sie den Begriff „Bolsonarismus“ auf, der den Politikstil des amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro beschreibt. Was zeichnet diesen Stil aus?
Zusammengebracht wird all dies durch die fast schon bedingungslose Unterstützung der Person Bolsonaro. Charakteristisch ist dabei, und das wird auch von Bolsonaro immer wieder forciert, die Kreation von Feindbildern. Eine Einteilung der Gesellschaft in Gut und Böse, ein „Wir gegen die“-Denken. 

Dies führt dazu, dass jegliche Abweichung von Bolsonaros Kurs von seinen Anhänger:innen bestraft wird. Folglich lässt sich der Bolsonarismus fast schon als etwas sektenhaftes, religiöses begreifen. Wenn man sich mit den Anhänger:innen befasst, wird man das verstehen: Es gibt in der Regel keinerlei Zweifel an dem Projekt. Das führt mitunter zu einer Art Führerkult mit teilweise wirklich absurden Situationen. 

Niklas Franzens Buch „Brasilien über alles: Bolsonaro und die rechte Revolte“ erschien erstmals im Mai 2022.

© Verlag Assoziation A.

In Ihrem Buch ordnen Sie Bolsonaro einer neuen Form des globalen Rechtsautoritarismus zu. Was haben Donald Trump und Bolsonaro nach gemeinsam?
Charakteristisch ist hier zum einen der Einsatz der sozialen Medien. Diese sind extrem wichtig geworden für diese neue Art des Rechtsautoritarismus. Bei seiner Wahl 2018 ist Bolsonaro eine sehr geschickte Medienarbeit gelungen. Er war den anderen Kandidat:innen in den sozialen Medien um Lichtjahre voraus. Ganz ähnlich haben wir das bei Donald Trump gesehen. 

Auch die Art der Inszenierung ist sehr wichtig. Auch wenn ich den Begriff des Populismus nicht ganz passend finde, glaube ich, dass das populäre Moment bei den neuen Autoritären sehr wichtig ist. Bolsonaro inszenierte sich als ein „Mann des Volkes“ und als Anti-Establishment-Kandidat, der sich klar von der politischen Elite abgrenzte. 

Das hatte sicher auch damit zu tun, dass Brasilien im Jahr 2018 von einer schweren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise betroffen war. Korruption war das beherrschende Thema, und Bolsonaro hat es sehr geschickt geschafft, die Wut und die Unzufriedenheit, vor allem gegen die Arbeiterpartei PT, zu kanalisieren und sich als einen radikalen Neustart zu verkaufen. 

Neu ist auch, dass die Rechte mittlerweile immer internationaler aufgestellt ist. Man muss anerkennen, dass es ihnen gelungen ist, ein globales Netz zu spannen. Die Rechten sind sehr geschickt darin, sich zu vernetzen, voneinander zu lernen und gewisse Prozesse in andere Länder zu importieren. 

Zwischen Trump und Bolsonaro gibt es nicht nur ideologische, politische Parallelen, sondern auch praktische Verbindungen.

Niklas Franzen

Und tatsächlich gibt es zwischen Trump und Bolsonaro nicht nur ideologische, politische Parallelen, sondern auch ganz praktische Verbindungen. Steve Bannon, der Ex-Berater von Donald Trump, traf sich 2018 kurz vor der Wahl mit einem der Söhne Bolsonaros, der zusammen mit seinen Brüdern maßgeblich hinter der Medienstrategie seines Vaters steckt. 

Den Wahlkampf Bolsonaros bezeichnen Sie auch als „Politik am Smartphone“. Wodurch zeichnet sich sein Kommunikationsstil aus?
Charakteristisch für diese neue Art des Rechtsradikalismus ist, dass man selbst Teil einer Bewegung sein kann. Früher war es schwieriger, sich aktiv in den Wahlkampf einzuschalten. 

Als Unterstützer:in eines:r Kandidat:in hat man vielleicht Debatten im Fernsehen gesehen oder war mal bei einer Wahlkampfveranstaltung in der eigenen Stadt anwesend. Das hat sich durch soziale Medien verändert. Man kann sich nun als Teil einer großen Online-Bewegung wähnen, hat das Gefühl, die Geschicke des Landes zum Teil mitbestimmen zu können. 

Schaut man genauer hin, muss man feststellen, dass es dabei gar nicht wirklich darum ging, sich mit Bolsonaros politischen Inhalten zu befassen. Stattdessen wurde  ein klassisches „negative campaigning“ betrieben. In erster Linie ging es  darum, politische Gegner:innen zu diskreditieren. 

Bolsonaro umjubelt von Anhängern

© Foto: AFP/Douglas Magno

Dabei wurden teils absurde Fake News verbreitet. Eine besonders bekannte ist, die Arbeiterpartei PT habe Babyfläschchen in Form eines Penis verteilt. Man mag darüber lachen – in einem Land mit einem eher niedrigen Bildungsniveau wurde das jedoch leider von vielen Menschen geglaubt.  Zudem wurden etliche Morddrohungen teils tausendfach geteilt, es kam zu regelrechten Hetzjagden im Internet. Das hat dazu geführt, dass sich einige prominente Bolsonaro-Gegner:innen absetzen und das Land verlassen mussten. 

Warum ist gerade die Rechte so erfolgreich darin, über soziale Medien zu politisieren? 
Ich glaube, das liegt am Wesen der Inhalte. Soziale Medien funktionieren vor allem über kurze, prägnante Botschaften. Da hat eine rechte, menschenverachtende Ideologie leichtes Spiel. 

Zudem gibt es weniger Skrupel, Fake News zu verbreiten. Ich denke, es ist schon immer Teil rechter Ideologie gewesen, Lügen und Hetze zu verbreiten. Daher kann es auch keine Lösung für linke oder progressive Kräfte sein, diese Taktik einfach zu kopieren. 

Bolsonaro ließ sich öffentlichkeitswirksam in Israel evangelikal taufen. Welche Rolle spielen die Evangelikalen in Brasilien und für Bolsonaros Politik?
Brasilien war immer das größte katholische Land der Welt und befindet sich derzeit in einer sehr großen religiösen Transformation. Die Evangelikalen haben immer mehr Zulauf. Es ist schwierig, genaue Daten zu erheben. In den letzten Studien bezeichneten sich jedoch bereits 31 Prozent der Bevölkerung als evangelikal, mit steigender Tendenz. Es gibt Studien, die sagen, in zehn Jahren könnten die Evangelikalen bereits die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung stellen. 

Zeitgleich nehmen die Evangelikalen immer mehr politischen Einfluss. Lange Zeit lang hat man sich aus der Politik herausgehalten, sie galt als „zu weltlich“. Doch gerade in den letzten Jahren haben sie immer mehr Einfluss aufgebaut. Dabei hat die Kirche ihre Fühler zunächst in alle Richtungen ausgestreckt. Es gab zeitweise auch etliche evangelikale Kirchen, die die PT-Regierung unterstützt haben. Bei der letzten Wahl haben sich dann aber zum ersten Mal, alle großen Kirchen hinter einen Kandidaten gestellt – Bolsonaro. 

Die Taufe Bolsonaros im Jordan war ein klares Zeichen.

Niklas Franzen

Die Taufe Bolsonaros im Jordan war ein klares Zeichen an diese Wählerschaft. Er ist selbst katholisch, ließ sich aber von einem sehr bekannten evangelikalen Pastor mit seiner dritten Frau vermählen lassen. Zudem sind zwei seiner Söhne Mitglieder in evangelikalen Kirchen. 

Bemerkenswert ist, dass Bolsonaro hier in wirklich in vielen Punkten geliefert hat. Er hat während der Pandemie dafür gekämpft, dass Kirchen nicht schließen müssen, zudem Steuererleichterungen für die Kirchen erwirkt. Das führt dazu, dass die großen Kirchen auch heute weiterhin hinter Bolsonaro stehen. Zuletzt lag er in den Umfragen in fast allen gesellschaftlichen Gruppen deutlich hinter Ex-Präsident Lula – außer bei der evangelikalen Wählerschaft.  Da liegt er mit 60 Prozent vorne. 

Und die Evangelikalen haben es mit Hilfe Bolsonaro tatsächlich geschafft, sich  festzusetzen, sie haben teilweise ganze Referate und Organe des Staates unterwandert. Der wichtigste Name in diesem Zusammenhang ist die ehemalige Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte Damares Alves, die von Bolsonaro nominiert wurde. Sie ist Pastorin und radikale Abtreibungsgegnerin und hat die reaktionären Rückschritte in Brasilien maßgeblich vorangetrieben. 

Sie haben das Schaffen von Feindbildern angesprochen. Sie selbst bezeichnen die Zerstörung der brasilianischen Linken als „Bolsonaros wichtigste Mission“. Wie erklären Sie dieses partikulare Abarbeiten an der Linken?
Das hängt mit der brasilianischen Geschichte zusammen. In Brasilien gibt es eine sehr lange antikommunistische Tradition. Zum Teil geht das auf die 1930er Jahre zurück, als es tatsächlich mal einen kommunistischen Umsturzversuch gegeben hat. Dieser wurde unter anderem durch Olga Benario vorangetrieben, eine deutsche Kommunistin die im Auftrag der Komintern nach Brasilien kam. Damals hat sich im brasilianischen Militär ein starker Antikommunismus entwickelt.

Zur Zeit des Kalten Krieges war Brasilien ein wichtiger Schauplatz. Mit Unterstützung der CIA kam es 1964 zu einem Militärputsch. Zu der Zeit war der Antikommunismus eine der wichtigsten Klammern, Linke und Oppositionelle wurden verfolgt, ermordet und ins Exil vertrieben. 

Bolsonaro bezieht sich bis heute immer wieder positiv auf die Militärdiktatur.

Niklas Franzen

Bolsonaro hat, sowie viele andere Regierungsmitglieder, genau zu dieser Zeit seine politische Karriere begonnen. Sie werden deshalb auch die „Generation Vietnam“ genannt. Bolsonaro bezieht sich bis heute immer wieder positiv auf die Militärdiktatur. Er hat Folterer als Nationalhelden bezeichnet, sein Vizepräsident feiert jedes Jahr zum Jahrestag des Putsches am 31. März die „Befreiung vom Kommunismus“. 

Dabei muss man erwähnen, dass wir heute einen Antikommunismus ohne Kommunismus sehen. Brasilien ist weit von einer echten „kommunistischen Bedrohung” entfernt und auch die Arbeiterpartei PT ist nicht im entferntesten eine kommunistische Partei. Dabei handelt es sich vor allem um ein geschicktes Label, das man politischen Gegner:innen anheften kann, um sie damit zu bekämpfen. 


Das sich anbahnende Duell Lula vs. Bolsonaro zeichnet das Bild eines Brasiliens, in dem sich Links und Rechts gegenüberstehen. Ist das die Realität in der Bevölkerung? 
Das würde ich nicht sagen. Der Großteil der Bevölkerung ist eher unpolitisch. Die meisten geben ihre Stimme nicht unbedingt wegen eines politischen Programms, viel eher wählen sie eine charismatische Persönlichkeit. Und Parteien spielen eine untergeordnete Rolle. Lula und Bolsonaro sind sich in einigen Punkten sehr ähnlich. Sie beide schaffen es, ein Gefühl bei vielen Brasilianer:innen zu wecken und mit ihrer ganz eigenen Rhetorik einen Nerv zu treffen. 

Natürlich steht Lula für ein progressiveres Wahlprogramm, es wäre aber illusorisch zu glauben, dass Lulas Höhenflug in den Umfragen ein Erfolg der Linken ist. Sein Projekt ist nicht von breiten Massenprotesten begleitet, wie wir es kürzlich in Kolumbien oder Chile gesehen haben. Stattdessen ist die gesellschaftliche Linke in Brasilien relativ schwach. Lulas Stärke ist  eher mit seiner sehr guten Rhetorik und seiner bewegenden Lebensgeschichte zu erklären.

Es wäre illusorisch, Lulas Höhenflug für einen Erfolg der Linken zu halten. Eher ist seine Stärke mit seiner sehr guten Rhetorik und seiner bewegenden Lebensgeschichte zu erklären.

Niklas Franzen

Zudem hat es während seiner beiden Amtszeiten tatsächlich massive Fortschritte gegeben. Das hatte viel mit der günstigen Wirtschaftslage und dem Rohstoffboom zu tun. Er hat es geschafft, Millionen von Brasilianer:innen aus der Armut zu holen und hat Bildungsprogramme für marginalisierte Gruppen an Universitäten geschaffen.

Für viele steht er daher heute für eine Art „Saudade“, für eine Sehnsucht nach besseren Zeiten. Viele derjenigen, die sich nun für Lula aussprechen, hoffen, dass man wieder an dieses Gefühl anknüpfen kann. 

Luiz Inacio Lula da Silva im Wahlkampf

© Foto: AFP/Miguel Schincariol


Nach dem Korruptionsskandal hinter der „Operation Lava Jato“ galten Linke während der letzten Wahl in Brasilien gemeinhin als Betrüger und korrupt. Das scheint sich heute aufgelöst zu haben.
Tatsächlich steht das Thema Korruption so gut wie gar nicht mehr in der Öffentlichkeit. Die wirtschaftliche Situation wird bei dieser Wahl über allem stehen. Ich halte dies auch für eine Chance für die Linke, sich zurückzubesinnen und Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten. 

Wechseln wir in die Gegenwart. Während seiner Amtszeit stand Bolsonaro immer wieder für seine Umwelt- und Indigenenpolitik in der Kritik. Wie lebt es sich heute als indigene Person in Brasilien?
Die Situation für Indigene ist in Brasilien immer schwierig gewesen, auch die Regierung der Arbeiterpartei PT hatte damals nicht wirklich Fortschritte gemacht. Auch Lula und seine Nachfolgerin Rousseff haben auf Wachstum gesetzt, auf Kosten der Natur und damit den Lebensraum indigener Gemeinschaften. Und auch sie haben sich mit der extrem einflussreichen Agrarlobby verbündet. 

Trotzdem muss man festhalten, dass das, was unter der Bolsonaro-Regierung passiert ist, eine ganz neue Dimension hat. Bolsonaro hat Umweltschutz- und Indigenenbehörden entmachtet, er hat in allen staatlichen Organen linientreue Funktionär:innen eingesetzt und damit jegliche Schutzstrukturen zerschlagen.

Abholzung des Regenwaldes im Amazonas (Archivbild von 2019)

© dpa/Epa/Efe/Marcelo Sayao

Das hat dazu geführt, dass eine regelrechte Invasion auf Amazonien stattgefunden hat. Zehntausende Goldgräber, Holzfäller und Viehwirte dringen in die Region vor, zum Teil mit der expliziten Unterstützung Bolsonaros. Das hat für indigene Gemeinschaften, die durch die Verfassung eigentlich sehr viel Schutz zugesprochen bekommen, massive Auswirkungen. Zudem sind die Landkonflikte unter Bolsonaro explodiert, es gibt an allen Ecken und Enden des Regenwaldes und auch außerhalb Konflikte. Die Situation ist absolut dramatisch. 

Dennoch steht das innerhalb Brasiliens kaum im Fokus. Mir scheint, dass das Thema im Ausland oft mehr behandelt wird als im Land selbst. Im Ausland hängt die Debatte aber oft auch mit einer romantisierten Vorstellung des indigenen Lebens zusammen.


Lula liegt derzeit in allen Umfragen deutlich vorn. Bolsonaro nährt Zweifel am Wahlsystem, im Falle einer Niederlage droht er mit einem „Eingreifen des Militärs“. Müssen wir uns auf Szenen wie bei der Stürmung des Kapitols in den USA einstellen?
Es ist richtig, dass Bolsonaro konstant das demokratische System delegitimiert. Das macht er allerdings schon immer. Es war seit jeher eine Strategie von ihm, Institutionen anzugreifen und Unruhe zu stiften.

Auch wenn Bolsonaro nun sagt, er würde kein anderes Wahlergebnis akzeptieren als seine Wahl und nur Gott könne ihn von der Präsidentschaft entfernen, halte ich es für unwahrscheinlich, dass er damit durchkommt, geschweige denn, dass es einen klassischen Militärputsch geben wird. Für ein solches autoritäres Experiment hat er nicht den nötigen gesellschaftlichen Rückhalt. Sowohl die Medien als auch Teile des Militärs selbst stehen ihm derzeit kritisch gegenüber. 

Es war seit jeher eine Strategie von Bolsonaro, Institutionen anzugreifen und Unruhe zu stiften.

Niklas Franzen

Sicher, Präsident Bolsonaro hat dem Militär großen Einfluss verschafft. Mehr als 6.000 Militärs sitzen auf hohen Posten in der Regierung. Zeitgleich hat sich in den letzten Wochen gezeigt, dass es durchaus eine starke Gegenbewegung gegen Putschdrohungen und autoritäre Sehnsüchte Bolsonaros gibt. Es hat sich beispielsweise eine breite Koalition, ehemaliger Richter:innen, Politiker:innen, Künstler:innen, aber auch Teile wirtschaftlich einflussreicher Kräfte gebildet, die sich dafür ausgesprochen hat, die Wahlergebnisse um jeden Preis zu akzeptieren. 

Die Militärdiktatur in Brasilien endete erst 1985 - müsste es nicht eigentlich eine stärkere Reaktion geben, wenn ein Präsident ein Durchgreifen des Militärs andeutet?
Bolsonaro droht nicht selbst mit dem Militär, sondern bedient sich eher Anspielungen. Viele halten dies  für einen Bluff, mit dem Bolsonaro Stärke demonstrieren will, um sich Verhandlungsspielraum zu schaffen. 

Dass es keinen größeren Aufschrei gibt, hat aber sicher auch mit der Historie zu tun. Die brasilianische Militärdiktatur ist in keinster Weise aufgearbeitet. Nach dem Ende der Diktatur gab es eine Generalamnestie, kein Täter wurde für die Gräueltaten angeklagt. Viele Stimmen sagen auch, dass es in Brasilien nur eine „Militärdiktatur light“ gegeben habe, weil „nur“ 434 Menschen ermordet wurden. Insgesamt ist der Geschichtsrevisionismus weltweit ein ganz wichtiges Wesenselement und eine zentrale Waffe der neuen Autoritären. 

Lulas Wahlkampagne sagt wenig über seine konkreten Ziele aus, er setzt auf Nostalgie und die Erfolge seiner letzten Amtszeit. Kann er einfach da weitermachen, wo er 2011 aufgehört hat?
Nein, auf gar keinen Fall. Die Situation hat sich grundlegend geändert. Bei seiner letzten Amtszeit hatte er in gewisser Form Glück durch den damaligen Wirtschaftsboom. Ich will nicht in Abrede stellen, dass er mit Verhandlungsgeschick und politischer Weitsicht die richtigen Akzente gesetzt hat. Dennoch haben sich die Zeiten geändert. Brasilien steckt in einer Wirtschaftskrise, die sich nicht von heute auf morgen umkehren lassen wird. 

Auch haben sich die Bedingungen geändert. Lulas Stärke in den Umfragen ist kein  Ausdruck für ein „linkes Projekt”,  wird nicht von Protesten in der Bevölkerung getragen, weswegen Lula weiß, dass er auf die konservative Mittelschicht angewiesen ist.

Er weiß sicher, dass er nicht zu weit gehen kann und nicht den Spielraum für große Veränderungen hat. Das hat beispielsweise dazu geführt, dass mit dem ehemaligen Gouverneur von São Paulo einen Konservativen als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft ernannt hat. Er versucht, breite Bündnisse zu schmieden. Das ist wichtig, um die Wahl zu gewinnen. Der Spielraum für progressive oder linke Veränderung schwindet damit aber. 

Seine Signale sind somit sehr ambivalent. Er sucht den Kontakt zu konservativen Kreisen, ist gleichzeitig aber  in Kontakt mit sozialen Bewegungen, die zum Teil auch an seinem Wahlprogramm beteiligt sind. So will er beispielsweise auch ein Indigenenministerium einrichten, mit einem:r Indigene:n an der Spitze und von einer neoliberalen Schuldenbremse abrücken. 


Auf welche Themen muss er sich für eine erfolgreiche Präsidentschaft fokussieren?
Die wirtschaftliche Situation wird alles bestimmen. Daher wird es entscheidend sein, wen er letztlich als Wirtschaftsminister nominieren wird. Der Erfolg hängt auch damit zusammen, ob es Lula gelingt, das Vertrauen im Ausland zurückzugewinnen. Bolsonaro hat dieses zu großen Teilen verspielt, wodurch Brasilien fast schon ein Pariastaat geworden ist. 

Lula wurde hingegen wurde auf seiner Europatour von hochrangigen Staatschefs empfangen. Es ist charakteristisch für seine Person, dass er mit allen gut klar kommt. Das wird auch unter dem Begriff „Lulismo“ verstanden und ist sicher auch weiterhin die Linie, die er während einer möglichen neuen Präsidentschaft gehen wird. 


Können wir denn mit einer Wahl Lulas den Bolsonarismus ad acta legen? 
Ich glaube das nicht. Die Prozesse, die durch diese Regierung in Gang gesetzt wurden, werden das Land noch lange prägen. Auch die neue Art, Politik zu machen, wird Brasilien noch beschäftigen. 25 Prozent der Bevölkerung steht weiterhin hinter Bolsonaro und das nicht trotz seiner menschenverachtenden Politik, sondern gerade wegen dieser. Man muss also versuchen, einen Umgang damit zu finden. 

Ich glaube, es ist insgesamt ein Fehler, nur auf Amtszeiten zu blicken. Bei dem Projekt Bolsonaros und der neuen Rechten geht es auch darum, die Gesellschaft zu verändern und damit waren sie in vielen Punkten wirklich erschreckend erfolgreich.

Es ist zudem ein Fehler, nur auf die Bundespolitik zu blicken. Zahlreiche Politiker:innen, die dieses bolsonaristische Denken verinnerlicht haben, sitzen landesweit auf lokaler Ebene weiterhin in wichtigen Ämtern. Ich glaube, dass selbst wenn Bolsonaro abgewählt werden sollte, der Bolsonarismus Brasilien noch lange beschäftigen wird. 

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