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Windräder stehen in der Ostsee zwischen den Inseln Rügen und Bornholm (Dänemark) stehen.

© dpa

„Überragendes öffentliches Interesse“: Klimavorrang gibt Windenergie noch keinen Schwung

Ein neuer Grundsatz soll Genehmigungsverfahren für Windräder beschleunigen. Doch erst wenn die Länder mitspielen, sind Besserungen für die Branche zu erwarten.

Seit Ende Juli gilt das „überragende öffentliche Interesse“ beim Ausbau von Erneuerbaren in Deutschland – eine entsprechende Regelung des novellierten Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist in Kraft getreten. Das Prinzip soll nach Überlegung des grünen Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck die Genehmigungsverfahren beschleunigen.

Behörden sollen bei Abwägungsentscheidungen der Wind- und Solarenergie Vorrang geben können – zum Beispiel, wenn eine Genehmigung die Interessen des Denkmalschutzes berührt.

Die Neuerung ist eine Reaktion auf die lähmende Bürokratie: Etwa zwei Jahre dauert es bundesweit im Durchschnitt, bis ein Genehmigungsverfahren für ein Windrad an Land abgeschlossen ist – das bremst den benötigten Ausbau der Erneuerbaren ab. Schlusslicht ist hier das Bundesland Hessen mit einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von 38,2 Monaten, wie aus Zahlen der Fachagentur Windenergie an Land hervorgeht.

Hilft der eingeführte Grundsatz nun bei schnelleren Genehmigungsverfahren und damit beim Ausbau der Windenergie? Von der Landesgeschäftsstelle Hessen des Bundesverbands Windenergie heißt es: „Der Grundsatz des ‚überragenden öffentlichen Interesses‘ hilft zurzeit wenig bis gar nicht in Hessen beim Ausbau der Windenergie“, sagte die Leiterin Katharina Prenzel im Gespräch mit Tagesspiegel Background.

Zum einen sei das „überragende öffentliche Interesse“ erst seit Ende Juli im EEG verankert, zum anderen könnten die zuständigen Behörden weiterhin eine Genehmigung verhindern, wenn der Grundsatz nach deren Einschätzung zum Beispiel gegen europäisches Naturschutzrecht verstoße. Daher verkürze er derzeit noch nicht die Verfahrensdauer bei neuen Windenergieanlagen.

„Schnellere Genehmigungsverfahren bringen außerdem wenig, wenn der Großteil der Genehmigungen in Hessen beklagt und zahlreiche Windvorrangflächen vorsätzlich blockiert werden“, sagte Prenzel. „Das verunsichert Investoren massiv.“ Die Gerichtsverfahren bremsten die Projekte aus oder verhinderten sie. Von den etwa 200 Megawatt genehmigter Windenergie-Leistung in Hessen ist derzeit die Hälfte beklagt – ein im bundesweiten Vergleich sehr hoher Anteil.

Branche wünscht sich Taskforce in Hessen

Zudem ist die gesamte, rund 40.000 Hektar große ausgewiesene Fläche in den Teilregionalplänen für die Windenergie in dem Bundesland beklagt, wie der Bericht des Bund-Länder-Kooperationsausschusses zum Ausbau der erneuerbaren Energien zeigt.

Windräder mit roten Signallampen drehen sich nach Sonnenuntergang in Renzow, Mecklenburg-Vorpommern.

© dpa

Zwar gelten die beklagten Flächen weiterhin als rechtswirksam – doch vor Gericht können Pläne für neue Windenergieanlagen dadurch gekippt werden, was auch „immer wieder“ geschieht, heißt es in dem Bericht. Das Ergebnis ist entsprechend mau: Nur 3,2 Prozent des Gesamtzubaus bei der Windenergie an Land gingen 2021 auf Hessen zurück.

„Es gibt noch so viele Hemmnisse, zum Beispiel beim Artenschutz. Eine unserer Forderungen ist die Gründung einer Taskforce für den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren in Hessen“, erklärte Prenzel. Diese soll aus Fachleuten der Landesregierung sowie Naturschutzverbänden und Genehmigungsbehörden bestehen.

Genehmigung nach bestimmter Frist ohne Entscheidung

Ähnlich frustriert gibt sich die Windenergiebranche weiter nördlich in Niedersachsen – ausgerechnet in dem Bundesland, das sich gerne mit der höchsten installierten Windenergieleistung in Deutschland brüstet. Dort sitzt Horst Mangels dem Landesverband des Bundesverbands Windenergie vor. „Das ‚überragende öffentliche Interesse‘ hilft uns überhaupt nicht – denn dieser Grundsatz wird nicht gelebt“, sagte er im Gespräch mit Tagesspiegel Background.

„Im Idealfall würde so ein Grundsatz bedeuten, dass Genehmigungsverfahren schneller bearbeitet werden.“ Das sei jedoch nicht der Fall. Mangels nennt als Beispiel ein Genehmigungsverfahren in einem niedersächsischen Landkreis, bei dem die Genehmigung im April bereits so gut wie fertig war und von der Behörde eigentlich nur noch hätte geschrieben werden müssen. „Aber weil das Personal fehlte, hat alleine das Ausfertigen dieser Genehmigung ganze sechs Monate gedauert.“

Der Unternehmer wünscht sich mehr Verbindlichkeit durch klare Fristen: „Wenn nach zwei oder drei Monaten das Verfahren immer noch nicht abgeschlossen ist, sollte die Behörde die Genehmigung automatisch erteilen.“ Das wäre Mangels zufolge wesentlich hilfreicher als der Grundsatz des überragenden öffentlichen Interesses (andere Probleme mit dem Prinzip thematisierte auch dieser Standpunkt).

Unternehmer wartet auf höhere Vergütungen

Neben lahmenden Genehmigungsverfahren treibt Mangels auch noch ein anderes Hemmnis um. „Mein Unternehmen hat zwar jetzt Genehmigungen für zwei Windräder – doch wir werden sie wegen massiv gestiegener Beschaffungskosten noch nicht bauen können. Die Vergütungen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wären zu niedrig.“

Auch Solaranlagen sollen von dem im Sommer eingeführten Grundsatz profitieren.

© dpa / Marijan Murat

Der Windkraft-Projektierer hofft darauf, dass die Bundesregierung bei der nächsten Ausschreibung im kommenden Jahr die Vergütung von derzeit höchstens 5,88 Cent pro Kilowattstunde anheben und langfristig an der Inflation und Kostenentwicklung orientieren – also „indexieren“ – wird.

Und erst wenn das Unternehmen dann den Zuschlag erhalten werde, würde es loslegen. Die Genehmigung gilt für drei Jahre. Helfen würde laut Mangels auch, wenn die staatliche KfW-Bank ihre Kredite für Erneuerbaren-Projekte zu einem festen Zinssatz vergeben würde.

Vorrang müsste auch in Landesrecht gelangen

Dass die Behörden neue Windräder in Niedersachsen schneller genehmigen, liegt auch in der Hand der Landesregierung. Nach der Landtagswahl will die zukünftige rot-grüne Koalition in Niedersachsen jährlich etwa 1,5 Gigawatt Windenergie an Land zubauen – also den bisherigen jährlichen Zubau nahezu vervierfachen. Dafür will sie unter anderem das „überragende öffentliche Interesse“ im Landesrecht verankern, wie es im Koalitionsvertrag von SPD und Grüne heißt.

Den Grundsatz auf diese Weise in Fachrecht zu übersetzen – also in Denkmalschutzrecht, in Raumordnungsrecht oder Landesforstrecht – wird laut Jürgen Quentin von der Fachagentur Wind an Land entscheidend sein, damit das „überragende öffentliche Interesse“ auch wirklich dabei helfen kann, die Genehmigungsverfahren zu beschleunigen.

Darauf hofft auch der Brandenburger Landesverband beim Bundesverband Windenergie – und gibt sich zuversichtlich, dass die rot-schwarz-grüne Landesregierung zumindest im Denkmalschutzrecht und in der Regionalplanung den Vorrang bald verankern wird.

Quentin ist studierter Wirtschafts- und Umweltrechtler und Analyst für energiewirtschaftliche Fragen. Er geht davon aus, dass das „überragende öffentliche Interesse“ womöglich erst in einigen Monaten seine Wirkung entfalten wird und es noch zu früh ist, um bereits ein abschließendes Urteil zu fällen.

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„Ein solcher Grundsatz ist allerdings keine Wunderwaffe, selbst wenn er in Landes- und Bundesrecht verankert ist“, erklärte Quentin. „Denn die Regelung eröffnet den Behörden letztlich nur, im Rahmen der Abwägung mit anderen Rechtsgütern – etwa beim Denkmal- oder Artenschutz – der Nutzung erneuerbarer Energien ein besonders hohes Gewicht zu verleihen, welches sich positiv auf die Genehmigungsentscheidung auswirken kann.“

Genauso wichtig sei, dass die Landesregierungen gegenüber den Fachbehörden konkretisierende Verwaltungsvorschriften erlassen – in denen aufgefordert wird, Ermessensentscheidungen im Sinne des „überragenden öffentlichen Interesses“ zugunsten der Erneuerbaren auszuüben. Dadurch würde der Grundsatz in den Verfahren auch mehr Gewicht bekommen.

Der Ausbau der Onshore-Windenergie braucht jedenfalls dringend mehr Schwung, wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will. Die jüngsten EEG-Ausschreibungen für Windräder an Land waren deutlich unterzeichnet.

Im Jahr 2021 lag der bundesweite Bruttozubau der Onshore-Windenergie bei nur 1,9 Gigawatt – das ist wesentlich geringer als die für die Klimaziele jährlich mindestens benötigten fünf Gigawatt. Nach dem Willen der Ampel-Koalition soll die jährliche Zubaurate für Windenergie an Land bereits ab 2025 bei zehn Gigawatt liegen.

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