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Das Firmenlogo an einem Werksgebäude im brandenburgischen Hennigsdorf.

© dpa/Soeren Stache

Zukunftstarif ohne Zukunft?: Arbeitsplätze in der Bahnindustrie bedroht

Vor drei Jahren übernahm der französische Alstom-Konzern die kanadische Bombardier Transportation. Heute sind die Belegschaften in Deutschland enttäuscht – und drohen mit Krawall.

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Der Verdruss über die Franzosen ist groß. Vor gut drei Jahren hatte Alstom den kanadischen Krisenkonzern Bombardier Transportation mit einem Dutzend Werken in Deutschland übernommen und dabei vom neuen „Weltmarktführer im Bereich der smarten und nachhaltigen Mobilität“ geschwärmt. Mit 75.000 Beschäftigen wurde Alstom zum größten Hersteller von Schienenfahrzeugen nach der chinesischen CRRC. Als dann auch noch im März 2023 mit den Arbeitnehmervertretern ein „Zukunftstarifvertrag“ abgeschlossen wurde, schien die unendliche Krise der ostdeutschen Bahnindustrie überwunden. Ein Irrtum.

„Die wollen nur die Kohle einsacken“, schimpft René Straube über das Alstom-Management. Straube ist Betriebsratschef im Görlitzer Werk und als Gesamtbetriebsratsvorsitzender zuständig für alle 9000 Arbeitsplätze an den deutschen Standorten. Er regt sich auf über den Umgang des Konzerns mit dem Zukunftstarif: Die Beschäftigten verzichten unter anderem auf Urlaubsgeld, wodurch der Konzern 34 Millionen Euro im Jahr spart, aber die im Gegenzug versprochenen Investitionen bleiben aus. Arbeitsplätze sollen auch gestrichen werden. „Den Leuten kalt lächelnd das Geld abnehmen und dann die Hände in den Schoß legen – so geht das nicht“, sagt Straube im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

 „Ohne Zukunftstarifvertrag hat Görlitz keine Perspektive.

René Straube, Betriebsratsvorsitzender

Fast 90 Prozent der IG Metall-Mitglieder in den betroffenen Alstom-Werken haben kürzlich für eine Kündigung des Zukunftsvertrags gestimmt. Trotz der möglichen Folgen. „Ohne Zukunftstarifvertrag hat Görlitz keine Perspektive“, sagt Straube über den traditionsreichen Standort in Ostsachsen mit knapp 700 Arbeitsplätzen.

Die Leute seien sauer und wollten auf keinen Fall in diesem Jahr erneut auf das Urlaubsgeld verzichten. Dann lieber aus dem Tarifvertrag aussteigen und mit Streiks hohe Abfindungen für den Arbeitsplatzabbau durchsetzen. Nach Angaben der IG Metall und des Betriebsrats „sind inzwischen zwei Standorte, Görlitz und Hennigsdorf, abermals akut bedroht“.

Bis 2020 gehörte der Rohbau im Görlitzer Werk zur kanadischen Bombardier Transportation.
Bis 2020 gehörte der Rohbau im Görlitzer Werk zur kanadischen Bombardier Transportation.

© dpa/Sebastian Kahnert

In kurzer Zeit habe es Alstom geschafft, „das Vertrauen in den Belegschaften zu verlieren“, sagt Straube. Entweder das Management „stellt jetzt die Weiche richtig“, oder „wir müssen in eine harte Auseinandersetzung gehen“. Am 12. April steht „ein letzter Einigungsversuch“ an, und zumindest das deutsche Management hat die Drohung verstanden. „Alstom nimmt die Kritikpunkte an der Umsetzung des Zukunftstarifvertrags ernst und prüft sie sorgfältig“, teilte das Unternehmen auf Anfrage mit. „Unser Ziel ist und bleibt, die Zukunft von Alstom in Deutschland auf Basis des Zukunftstarifvertrags zu gestalten.“

Der Konzern mit Sitz in Paris hatte Ende 2021, rund zehn Monate nach der Übernahme von Bombardier Transportation, den Abbau von 1300 Stellen vor allem an ostdeutschen Standorten angekündigt. IG Metall und Betriebsrat entwickelten daraufhin ein Konzept zur Verbesserung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit ohne Massenentlassungen. Darüber hinaus verzichteten die Mitarbeitenden auf das Urlaubsgeld, das 75 Prozent eines Monatsentgelts beträgt.

Der Zukunftstarifvertrag ist ein echter Meilenstein für Alstom in Deutschland.

Müslüm Yakisan, Alstom-Chef für den deutschsprachigen Raum.

Das Unternehmen wiederum sagte für jeden Standort einen „Schwerpunkt mit klarem Aufgabenspektrum“ zu. Zudem sollten pro Jahr zwei Prozent des Deutschland-Umsatzes in die hiesigen Standorte investiert werden. „Die Einigung auf einen Zukunftstarifvertrag ist ein echter Meilenstein für Alstom in Deutschland“, lobte Müslüm Yakisan, Alstom-Präsident der Region Deutschland, Österreich, Schweiz, das Abkommen.

Doch offenbar bekommt Yakisan von den Pariser Konzernchefs nicht die Spielräume, um den Vertrag auch umzusetzen. Im Gegenteil: „Der geplante Abbau von weiteren 290 Stellen verstößt ganz klar gegen den Zukunftstarifvertrag“, sagt Betriebsrat Straube und forderte eine Perspektive für alle Standorte: „Dazu gehören Personalausstattung, Kompetenzprofile und Investitionen.“

Rohbau in Polen

Der Zukunftstarifvertrag sollte vor allem den Standorten Hennigsdorf, Bautzen und Görlitz eine Perspektive verschaffen. „Für Görlitz bekommen wir keine Aufträge und keine Investitionen. Was dort derzeit noch an Rohbau stattfindet, geht auf Bombardier zurück, noch immer werden keine Alstomprodukte in Görlitz gefertigt“, erzählt Betriebsrat Straube im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

Der polnische Schweißer kostet die Hälfte

Die Rohbauten für den deutschen Markt sollten künftig ausschließlich in Breslau und Kattowitz gefertigt werden, der Ausbau der Wagons dann vorwiegend in Salzgitter und eventuell in Bautzen stattfinden. „Fragt sich, wie lange es noch dauert, bis fertige Fahrzeuge aus Bestcostländern in Deutschland fahren“, äußert Straube skeptisch.

Die Franzosen schauten bei der Vergabe von Aufträgen an die Standorte allein auf die Personalkosten. Zwar koste ein Schweißer in Polen weniger als die Hälfte wie hierzulande, „allerdings sagt dies nichts darüber aus, welche Leistung ich als Unternehmen für eine Stunde herausbekomme. Der Kunde zahlt nicht den Schweißer oder Schlosser, er zahlt das Fahrzeug“, meint Straube.

Wir möchten so viel Wertschöpfung wie möglich in den deutschen Werken, doch das scheint mit Alstom aktuell nicht möglich zu sein.

Jan Otto, IG Metall-Chef in Berlin

Hennigsdorf, nördlich von Berlin, ist mit rund 2000 Beschäftigten der größte ostdeutsche Alstom-Standort, gefolgt von Bautzen mit 1200. Nur noch ein Viertel der Belegschaft ist in Hennigsdorf in der Fertigung tätig und baut derzeit Fahrzeuge für Skandinavien, wie Straube sagt. „Den Großteil des lokalen Personals stellt das Engineering und diverse Verwaltungsfunktionen.“

Die IG Metall plädiert seit Jahren für mehr inländische Fertigung der Züge, die oftmals mit Unterstützung des Steuerzahlers finanziert werden. „Unser Anliegen ist local content: Wir möchten so viel Wertschöpfung wie möglich in den deutschen Werken, doch das scheint mit Alstom aktuell nicht möglich zu sein“, sagt Jan Otto, erster Bevollmächtigter der Gewerkschaft in Berlin.

Im Streit um die Vergabe eines Milliardenauftrags für S-Bahnen stellt sich Otto auf die Seite der Alstom-Konkurrenten Siemens Mobility und Stadler. „Stadler hat in der Region massiv investiert und baut ein neues Testzentrum, und Siemens Mobility ist auch stabil in Berlin“, sagte Otto dem Tagesspiegel. „Für die Industrie in der Hauptstadtregion ist die Vergabe des S-Bahn-Auftrags an Siemens und Stadler die beste Lösung. Nachdem Alstom mit Klagen gegen die Vergabe weitgehend gescheitert ist, sollte nun bald der Auftrag erteilt werden, damit der Bau der Bahnen beginnen kann.“

In dem 2020 gestarteten Vergabeverfahren geht es um den öffentlichen Auftrag zur Herstellung und Instandhaltung von bis zu 1400 S-Bahn-Wagen und deren Betrieb auf zwei von drei Teilnetzen der Berliner S-Bahn. Der Auftragswert liegt bei gut zehn Milliarden Euro.

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