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Lerndefizite kumulieren schnell. Um so wichtiger sei daher frühes Gegensteuern.

© picture alliance/dpa / Christoph Soeder

Große Defizite durch Pandemie: Schüler haben ein Drittel weniger gelernt

Bildungsstudien zeigen international Lernverluste unter Schülern. Dabei wird auch eine soziale Diskrepanz deutlich.

Mehr als ein Drittel ihres normalen Lernzuwachses pro Schuljahr haben Schüler:innen durch die Corona-Pandemie verloren. Das ergab eine groß angelegte Meta-Analyse, die am Montag im Fachblatt „Nature Human Behaviour“ erschienen ist. Analysiert wurden dafür 42 Studien aus 15 Ländern, darunter vor allem Studien aus Großbritannien und den USA, sowie vier Studien aus Deutschland.

Die Schüler:innen verloren demnach insgesamt 35 Prozent des Lernfortschritts eines normalen Schuljahres, schreibt Leitautor Bastian Betthäuser von der Politik-Hochschule Sciences Po in Frankreich. Am größten sei das Lerndefizit bei Kindern mit niedrigem sozioökonomischen Status.

Dass die Defizite in Mathematik größer als beim Lesen sind, erklären die Autoren damit, dass Eltern mit ihren Kindern eher gemeinsam lesen, als Mathematik-Aufgaben zu bearbeiten. Einige der Studien zeigen auch, dass das Lerndefizit sich nicht im Laufe der Pandemie verringert hat, sondern in der Zeit von Mai 2020 bis Mai 2022 bestehen blieb.

Immense Relevanz

Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, hält die Relevanz des festgestellten Lerndefizits für „immens“. Er erwartet, dass das Defizit unmittelbaren Einfluss auf den Unterricht haben wird. „Je geringer die Lernleistungen sind, desto schwieriger wird es für die Lernenden, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen“, sagte er gegenüber dem Science Media Center Deutschland (SMC).

35
Prozent des Lernfortschritts eines normalen Schuljahres verloren die Schüler:innen

Der Schulpädagoge Zierer erwartet, dass sich eine „Generation Corona“ bildet: „Das trifft insbesondere die Jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern.“ Das Ergebnis verdeutliche, dass es an Bildungsgerechtigkeit im Land und auch weltweit mangele. Hinzu kämen negative Auswirkungen der Pandemie auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung, die in der Analyse nicht beleuchtet wurden.

„Es sollte alles unternommen werden, um die Lerndefizite aufzuholen“, sagte der Bildungsforscher. Leider hätten viele Länder die ersten Möglichkeiten – beispielsweise Sommerschulen – versäumt oder „absolut unreflektiert“ eingesetzt. „Damit ist noch mehr Zeit verloren gegangen.“

Wachsende Defizite

Lerndefizite würden schnell kumulieren und daher immer größer werden, warnt Zierer. „Je früher es gelingt, gegenzusteuern, desto besser ist es.“ Angesichts eines auch weltweit bestehenden Lehrermangels fehle es an vielen Schulen vor allem an Personal. Hinzu komme, dass sich die Digitalisierung ohne Konzepte nicht als Retter in der Pandemie bewährt habe: „Sie war vielmehr Treiber für Bildungslücken, gerade auch in der Freizeit durch einen zunehmenden und unreflektierten Konsum“, erklärt der Schulpädagoge.

Die Digitalisierung war Treiber für Bildungslücken, gerade auch in der Freizeit durch einen zunehmenden und unreflektierten Konsum.

Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik, Universität Augsburg 

Zierer sieht die Digitalisierung vielmehr als Treiber für Bildungsungerechtigkeit, weil je nach Bildungsniveau digitale Medien anders genutzt würden. „Damit bleibt es die Herausforderung für die nächsten zwei, drei Jahre, hier vernünftige Konzepte anzubieten.“

Auch Benjamin Fauth vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) hält die Lernrückstände für bedeutsam. In Deutschland würden laut Untersuchungen die Defizite beispielsweise in Hamburg und in Baden-Württemberg etwas geringer ausfallen. „Doch sie zeigen von der Tendenz her in dieselbe Richtung“, bekräftigte er gegenüber dem SMC.

Soziale Ungleichheit

Bildungsforscher Fauth gibt zu bedenken, dass die Rückstände wie auch ihre Folgen sozial ungleich verteilt sind. Während viele Schüler:innen mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund die Defizite ohne weiteres wieder aufholen können, würden vor allem bei Leistungsschwächeren und bei Lernenden aus eher bildungsfernen Elternhäusern die Folgen aber gravierender sein.

Die vorliegende Studie hat kognitive Lernrückstände im Fokus, also was beispielsweise in Deutsch und in Mathematik gelernt wurde. Die Befragung von Lehrkräften habe aber ergeben, dass neben den eigentlichen Lernrückständen auch der psychosoziale Bereich sehr problematisch ist. „Die Schulen haben zurzeit in diesem Bereich sehr viel Arbeit damit, bestimmte Lernroutinen wieder einzuüben und das ganze soziale Miteinander wieder auf die Reihe zu bekommen“, so Benjamin Fauth.

Der Bildungsforscher betont, dass viele der Probleme, die jetzt an den Schulen sichtbar werden, auch ohne Pandemie angegangen werden müssten. „Es gibt Schulen, die schon vor der Pandemie ein System etabliert hatten, mit dem sie die Lernfortschritte genau im Blick behalten können – um bei Lernproblemen direkt und gezielt fördern zu können.“ Dass der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Schüler:innen als Thema in der bildungspolitischen Debatte jetzt wieder präsenter geworden ist, begrüßt Fauth.

Anstieg von Wiederholern

In Deutschland ist laut Statistischem Bundesamt die Zahl der Schüler:innen, die eine Klassenstufe wiederholten, im vergangenen Schuljahr 2021/2022 deutlich gestiegen. Sie erhöhte sich demnach im Vergleich zum vorangegangenen Schuljahr 2020/21 um 67 Prozent auf 155.800. Allerdings galten in diesem Schuljahr wegen der Folgen der Coronapandemie für den Schulbetrieb andere Versetzungsregeln, oftmals spielten schulische Leistungen dabei keine Rolle.

Wie das Statistikamt in Wiesbaden am Montag mitteilte, erhöhte sich die Quote der Wiederholer:innen damit von 2021 auf 2022 im Bundesschnitt von 1,4 Prozent auf 2,4 Prozent. Der Vergleich zum Vor-Corona-Schuljahr 2019/2020 ergibt allerdings nur ein geringfügiger Anstieg, damals lag die Wiederholerquote im Schnitt bei 2,3 Prozent, also 0,1 Prozentpunkte niedriger als nun im abgelaufenen Schuljahr.

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