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Würdevolle Atmosphäre beim Gedenkgottesdienst.

© Tagesspiegel/Frank Bachner

„Kein exklusives Thema der Armen“ : In Berlin-Neukölln erhalten einsam Verstorbene für ein paar Momente ihre Würde zurück

240 Menschen sind im vergangenen Jahr in Neukölln einsam gestorben. Bei einer Gedenkfeier wurden vor fremden Besuchern ihre Namen verlesen.

Der Tod trat irgendwann zwischen 26. April und 10. Mai 2023 ein, genauer weiß es niemand. Nur, dass dieser Mensch sehr einsam in Neukölln gestorben ist, das weiß man genau. Todesort Neukölln, das ist auch über den Mann bekannt, der zwischen 14. Februar und 10. Mai verschieden ist. Aber der genaue Todeszeitpunkt? Ein Rätsel.

Vielleicht hießen diese Menschen Rita Santeler. Oder Klaus Petzold. Oder Gert Hantzel. Oder Ronald Rosig. Oder sie trugen einen der anderen 236 Namen, die am späten Sonntagnachmittag langsam über eine Videoleinwand in der Neuköllner Philipp-Melanchthon-Kirche liefen.

Bestattet auf Staatskosten, weil es keine Angehörigen gibt

240 Namen, 240 Schicksale, 240 Menschen, die im vergangenen Jahr in Neukölln einsam gestorben sind, oft ohne bekannten genauen Todeszeitpunkt. Unbeachtet von Angehörigen, früheren Arbeitskollegen, früheren Freunden. Bestattet auf Staatskosten, die Urne meist nur begleitet von einem Friedhofsmitarbeiter. Weil es keine Angehörigen gibt, welche die Beerdigungskosten übernehmen können. Oder weil sie diese einfach nicht übernehmen wollen. Oder weil keine Angehörigen bekannt sind.

Diese Menschen sollen ein Stück ihrer Würde zurückbekommen, zumindest für ein paar Momente sollen sie hörbarer Teil der Gesellschaft werden.

Deshalb haben sich am Sonntagabend rund 200 Menschen in der Philipp-Melanchthon-Kirche versammelt. Sie haben diese Verstorbenen nicht gekannt, sie trauern symbolisch um sie. Der Evangelische Kirchenkreis Neukölln hat zusammen mit dem Bezirksamt Neukölln eingeladen.

Zwei Kränze mit Schleifen und letztem Gruß liegen vor dem Altar, eingerahmt von den flackernden Flammen Dutzender Grablichter. Zwei Ständer mit Blumen sind dazwischen aufgestellt. Eine Atmosphäre, die der Andacht eine große Würde gibt. Eine Würde, die den Verstorbenen in ihren letzten Stunden fehlte. Und nicht nur da.

240
So viele Menschen sind 2023 in Neukölln einsam gestorben

Lokale und regionale Prominente lesen die 240 Namen vor, jeder einen Teil. Astrid-Sabine Busse trägt zum Beispiel vor, die frühere Schulsenatorin und langjährige Schulleiterin in Neukölln. Falko Liecke trägt vor, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Bildung, früher Jugend- und Gesundheitsstadtrat in Neukölln. In der ersten Reihe sitzt Martin Hikel, der Neuköllner Bezirksbürgermeister.

Eine Sopranistin bildet den musikalischen Höhepunkt

Zwischen den Blöcken mit den Namen erklingen getragene Musik und die Stimme von Anna-Louise Costello. Ihr Gesang bildet den musikalischen Höhepunkt der Andacht.

Rund 2700 Menschen werden jedes Jahr in Berlin ordnungsbehördlich bestattet. In mehreren Bezirken werden sie für ein paar Momente aus ihrer Anonymität geholt.

Einsamkeit wird befördert durch Armut, ist aber kein exklusives Thema der Armen.

Jan von Campenhausen, Pfarrer in Neukölln

Gedenkgottesdienste für einsam Verstorbene finden nicht bloß in Neukölln statt. Am kommenden Sonntag richtet der Bezirk Spandau zum fünften Mal solch eine Andacht aus. Die Feier beginnt um 17 Uhr in der Altstadt-Kirche St. Nikolai, organisiert vom Evangelischen Kirchenkreis Spandau und dem Bezirksamt. Auch in anderen Bezirken gibt es Gedenkgottesdienste.

In Mitte fand im vergangenen November eine Gedenkfeier statt, ausgerichtet für 218 einsam Verstorbene im Bezirk. Tags zuvor war in Tempelhof-Schöneberg solcher Menschen gedacht worden.

Auch Astrid-Sabine Busse hat Namen vorgelesen.
Auch Astrid-Sabine Busse hat Namen vorgelesen.

© Imago/IPON

In diesem Jahr wird man dort wohl den Namen jenes 86-Jährigen vorlesen, dessen Leiche in der Nacht zum vergangenen Samstag gefunden wurde. Er lag in seiner unbeheizten Wohnung in einem Mietshaus, erst beachtet, als extremer Verwesungsgeruch durch die Ritzen der Wohnungstür drang.

Solche Schicksale meint Hannes Rehfeldt, Neuköllns Stadtrat für Gesundheit und Soziales, wenn er in seiner Rede sagt: „Ihr Tod bleibt eine Tragödie. Umso mehr, da aus den spärlichen Informationen auch hier und da Mutmaßungen über ihr Leben entstehen können, die am Ende nur das sind: Mutmaßungen wegen fehlender Informationen.“ Deshalb kann er in einigen Fällen nur den Zeitraum des Todes nennen.

Viele Menschen haben nur noch lose soziale Kontakte

Pfarrer Jan von Campenhausen, der die Feier mit ausgerichtet hat, sagt: „Einsamkeit wird befördert durch Armut, ist aber kein exklusives Thema der Armen. Der zunehmende Individualismus führt immer mehr zur Vereinzelung der Menschen, die oft nur noch lose Sozialkontakte haben.“

Aber die Gesellschaft, die so sehr auf Individualismus fixiert ist, beginnt zu reagieren. „Sie richtet Gratulations- und Besucherdienste ein und sorgt durch soziale Einrichtungen wie Suppenküchen andere Treff- und Kontaktmöglichkeiten“, sagt von Campenhausen.

Oder sie reagiert, indem immer mehr Menschen zu den Gedenkgottesdiensten gehen. Bei den ersten Andachten in Neukölln waren nur die ersten Reihen besetzt, am Sonntagabend gab es kaum noch freie Plätze.

Manchmal bekommt der Besuch der Gedenkfeier völlig unerwartet mehr als eine symbolische Bedeutung. Vor drei Jahren schreckte ein Besucher in Neukölln auf, als er einen der Namen hörte. Es war ein Verwandter, der lange Zeit als vermisst galt.

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