zum Hauptinhalt
Krawall in Lichtenhagen

© Foto: dpa/Bauer

30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: „Das Pogrom prägte eine ganze Generation von Neonazis“

Die Gewalttaten von Lichtenhagen wurden lange verharmlost. Rechtsextremismus-Experte Fabian Virchow erklärt, welche Folgen das hatte.

Herr Virchow, welche Folgen hatte das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen für die Bundesrepublik?
Die Offensichtlichste war sicher die Zwei-Drittel-Mehrheit, mit welcher der Bundestag neun Monate später für eine tiefgreifende Einschränkung des Asylrechts stimmte. Insbesondere die SPD ist hier umgeschwenkt und hat die Verschärfungen nach anfänglicher Ablehnung mitgetragen.

Zur Begründung hieß es, man müsse das Asylrecht – als Lehre aus Lichtenhagen – verschärfen, um seine Akzeptanz in der Bevölkerung zu verbessern.
Das Argument halte ich für vorgeschoben, zumal es entsprechende Forderungen bereits viele Jahre vorher gab, und zwar bei Zahlen von weniger als 100.000 Asylsuchenden pro Jahr. Bezeichnenderweise haben wir ja auch im Anschluss an die Beschädigung des Asylrechts keine Erhöhung seiner Akzeptanz gesehen.

Welches Signal ging von Lichtenhagen für die rechtsextreme Szene aus?
Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sie Gewalt gegen Minderheiten weitgehend ungestraft ausüben kann und dass diese Gewalt in der Bevölkerung Zustimmung findet. Die wenigen Verurteilungen, teils mit erheblichem zeitlichen Abstand, hatten keine abschreckende Wirkung.

Das Pogrom war Teil einer rechten Gewaltwelle in den frühen 1990ern ...
... die von staatlicher Seite insgesamt nur zögerlich sanktioniert wurde. Viele Anschläge wurden verharmlost, zum Beispiel durch die Erklärung, es sei Alkohol im Spiel gewesen, die Aggression sei im Grunde unpolitisch. Diese Erfahrung, dass Gewalt kaum bestraft wird und im Gegenteil sogar politischen Druck erzeugen kann, hat eine ganze Generation von Neonazis geprägt. Und sie wurde dann weitergegeben an Jüngere, zum Teil auch an die eigenen Kinder.

Mit Ihrem Projekt „Doing Memory“ erforschen Sie, wie die deutsche Öffentlichkeit um die Erinnerung an die Gewalt in Rostock-Lichtenhagen rang und bis heute ringt. Was fällt hier auf?
Freundlich formuliert gab es von staatlicher Seite lange Zeit eine sehr zurückhaltende Erinnerungspolitik, bei der die politische Dimension der Ereignisse in den Hintergrund geschoben wurde. Das Wort Pogrom wurde vermieden, die Perspektive der Betroffenen kam zu kurz. Sowohl die politisch Verantwortlichen in Rostock als auch Entscheidungsträger auf Bundesebene versuchten, eine Erinnerung zu marginalisieren, die den gesellschaftlichen Rassismus anspricht. Aber ohne den lassen sich die Ereignisse nun einmal nicht erklären.

Warum diese Verdrängung?
Viele Akteure haben den Rassismus schlicht nicht gesehen und nicht verstanden, wie tief er in der Gesellschaft verankert ist. Dann liegt es nahe, die Vorwürfe als ungerechtfertigte Kritik abzutun.

Bis heute ist die Lesart populär, in Lichtenhagen hätten damals Wendeverlierer ihre Wut an noch Schwächeren ausgelassen.
Den Erklärungsversuch halte ich für stark vereinfachend und teilweise falsch, denn er unterstellt eine automatische Verbindung zwischen ökonomischem Abstieg und rassistischen Einstellungen, die es so nicht gibt. Vor allem hat dieser Versuch eine entlastende Funktion: nämlich für die Selbsterzählung der alten Bundesrepublik als das angeblich aufgeklärte Deutschland, das dem rassistischen, gewalttätigen Ostdeutschen gegenübersteht. Das ikonisch gewordene Foto des Claqueurs mit eingenässter Hose und Hitlergruß steht dafür exemplarisch.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false