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Pogrom in Lichtenhagen

© Foto: dpa/Wüstneck

Pogrom von Rostock-Lichtenhagen: Die Chronologie eines Staatsversagens

Bei den rassistischen Angriffen vor 30 Jahren sind Politik und Polizei völlig überfordert. Doch Folgen hat es nicht für sie, sondern für das Asylrecht.

Es waren angekündigte Ausschreitungen. Schon am Vortag konnte man in der Lokalzeitung lesen, dass dieser Protest gewalttätig wird. Es sollten Roma „aufgeklatscht“ werden, verkündeten Jugendliche aus dem Viertel, denn: „Die Rechten haben die Schnauze voll!“

Die Ausschreitungen, die dann Ende August 1992 mehrere Tage lang im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen wüten, gefährden das Leben zahlreicher Bewohner eines Asylbewerberheims, die meisten Sinti und Roma, sowie das von rund 150 vietnamesischen Vertragsarbeitern, die in dem Haus nebenan leben. Sonnenblumenhaus wird es genannt wegen der aufgemalten Blumen an der Fassade.

Tausende Schaulustige schreiten nicht ein, sondern klatschen Beifall. Das Pogrom zählt zu den schlimmsten rassistischen Übergriffen der frühen 1990er Jahre – und steht für das Versagen des Rechtsstaats in dieser Zeit. Eine Chronologie.


SONNABEND, 22. AUGUST 1992

Die ersten Steine, so wird es später der Untersuchungsausschuss feststellen, fliegen um 20.02 Uhr. Geworfen aus einer Menge von zunächst 60 gewaltbereiten Jugendlichen, die sich in den vergangenen zwei Stunden vor der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZAst) versammelt haben. Drumherum stehen hunderte Anwohner und andere Schaulustige, sie bejubeln die Steinwürfe. Auch Leuchtraketen werden auf das Gebäude geschossen. Die ersten Anwesenden rufen: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“

Über Wochen hatte sich der Hass auf die Geflüchteten gesteigert, die in der Aufnahmestelle ein mehrtägiges Registrierverfahren durchlaufen müssen. Da die Einrichtung völlig überfüllt ist, campieren Familien auf der Wiese, ohne jede Versorgung. Hunderte Menschen harren hier aus. Toiletten stellt die Stadt nicht auf mit der Begründung, keinen Zustand legitimieren zu wollen, „den wir nicht haben wollen“.

Lichtenhagen während der Krawalle
Lichtenhagen während der Krawalle

© Foto: Imago/Rex Schober

An diesem Sonnabend wächst die Menge der Gewaltbereiten rasch auf etwa 300 an. Drei Mal so viele Schaulustige drücken durch Johlen und Rufe ihre Zustimmung aus. Jugendliche haben aus dem Kiesbett der nahegelegenen S-Bahn-Strecke Steine gesammelt und zu dem Gelände gebracht.

Rostocks stellvertretender Oberbürgermeister Wolfgang Zöllick (CDU) erscheint vor Ort und versucht die Menge zu beruhigen: Bei den Geflüchteten handele es sich doch um Menschen. „Das sind doch keine Menschen“, wird ihm geantwortet. „Blutsauger sind das.“

Aus dem Schutz der Menge heraus greifen die Täter an, auch die Polizei. Um 22.11 Uhr wird ein Beamter verletzt, ein Polizeiwagen in Brand gesetzt. Kurz darauf fordert der Einsatzleiter zwei Wasserwerfer aus Schwerin an. Da in der etwa 100 Kilometer entfernten Landeshauptstadt aber keine Fahrer bereit stehen, müssen sich Rostocker Beamte auf den Weg machen, um die Wasserwerfer abzuholen. In der Zwischenzeit muss sich die Polizei mehrfach zurückziehen, erste Molotowcocktails fliegen. In dieser Nacht werden lediglich neun Straftäter festgenommen. Um 5.30 Uhr zerstreut sich die Menge.


SONNTAG, 23. AUGUST 1992

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Berndt Seite (CDU) erfährt morgens aus den Radionachrichten von den Ausschreitungen des Vorabends. Er befindet sich gerade dienstlich auf Rügen. Seite kontaktiert seinen Staatssekretär, der holt einen Lagebericht ein.

Vor der ZAst behindern am Vormittag Störer die Aufräumarbeiten, am frühen Nachmittag fahren Skinheads vor.

In der Polizeidirektion Rostock findet um 16 Uhr eine Lagebesprechung statt, auch der Landesinnenminister nimmt teil. Da von weiteren Anschlägen sowie der Anreise von Gewalttätern ausgegangen wird, werden zusätzliche Einheiten erbeten. Alle Anwesenden sind der Meinung, die Polizei habe die Lage im Griff.

Das Sonnenblumenhaus
Das Sonnenblumenhaus

© Foto: dpa/Jens Büttner

Zur selben Zeit ist die Menge vor dem Sonnenblumenhaus wieder auf mehrere hundert Menschen angewachsen. Sie haben Eisenstangen, Baseballschläger und Feuerwerkskörper dabei, Steine werden in Einkaufswagen herangekarrt. In der Umgebung gibt es mehrere Imbisse, bei denen sich die Menge mit Alkohol versorgt. Vor dem Untersuchungsausschuss wird der Verantwortliche des Ordnungsamts später erklären, seine Mitarbeiter hätten den Alkoholverkauf nicht unterbinden können, weil sie dann den Randalierern ausgesetzt gewesen wären.

Gegen 18.45 Uhr greifen 400 Störer die ZAst mit Steinen an – gleichzeitig von der Vorder- und Rückseite. Eine halbe Stunde später fliegen Molotowcocktails auf das Gebäude. Erst jetzt setzt die Polizei Wasserwerfer ein.

Auch das Wohnhaus der Vietnamesen wird an diesem Abend mit Steinen attackiert. Fensterscheiben gehen bis hoch in die fünfte Etage zu Bruch. Mit dicken Holzbrettern zerstören Randalierer die Eingangstür, sie werden nur durch den mit einer Schreckschusspistole bewaffneten Pförtner am Eindringen gehindert.

Vor der ZAst werden Polizisten später am Abend mit zerbrochenen Gehwegplatten attackiert, zu Boden stürzende Beamte werden getreten, ein Polizist zieht seine Pistole und will einem Täter in die Beine schießen, verfehlt aber. 70 Beamte werden in dieser Nacht insgesamt verletzt.

Rund 200 linken Gegendemonstranten gelingt es gegen 2 Uhr kurzfristig, direkt vor das angegriffene Gebäude zu ziehen und die Angreifer zu vertreiben. Die Polizei greift ein und nimmt dutzende Gegendemonstranten fest.


MONTAG, 24. AUGUST 1992

Auf einer Pressekonferenz äußert Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) Bestürzung über die Ereignisse in Lichtenhagen und ruft zu sofortigem Handeln auf: Das Asylrecht müsse verschärft werden, um einen „unkontrollierten Zustrom in unser Land“ zu verhindern.

In Rostock wird am Nachmittag mit der Räumung der ZAst begonnen, die Bewohner werden mit Bussen auf umliegende Heime verteilt. Zum Ende der Räumung gegen 15.30 Uhr bemerken Polizeibeamte im Nebenhaus dutzende Vietnamesen, die aus den Fenstern der oberen Etagen blicken. Obwohl dieses Wohnhaus am Vortag angegriffen wurde, sieht die Polizei keine Bedrohung für die Bewohner. Die Leiterin der ZAst wird später aussagen, sie habe die Polizei persönlich auf die Gefährdung der Vietnamesen aufmerksam gemacht. Der verantwortliche Beamte behauptet, dies sei eine Lüge.

Am frühen Abend versammeln sich erneut mehr als 1500 Menschen in der Umgebung der nun leeren ZAst. Beamte werden angepöbelt. Die Polizei beschließt gegen 19.45 Uhr, eine Hundertschaft vor der ZAst zu belassen. Zehn Minuten später wird dieser Beschluss widerrufen, stattdessen erhalten die Beamten den Befehl, sämtliche Schutzmaßnahmen einzustellen und sich zurückzuziehen. Die genauen Umstände dieses Befehls sowie die Frage, ob es sich um einen Kommunikationsfehler handelte, werden nie geklärt.

Beim Abzug attackieren Störer die Beamten, binnen Minuten beginnt eine Straßenschlacht. Mehrere Wasserwerfer fallen wegen technischer Defekte aus, auf einen Einsatzwagen wird mit scharfer Munition geschossen. Dennoch ist gegen 21.25 Uhr die Polizei komplett abgezogen.

Eine Viertelstunde später stecken Randalierer erste Innenräume in Brand, zunächst im Erdgeschoss der ZAst, dann nebenan im Wohnhaus der Vietnamesen. Die Feuerwehr wird an der Anfahrt gehindert, angegriffen und mit Baseballschlägern bedroht. Da weiterhin keine Polizei vor Ort ist, muss die Feuerwehr den Einsatz abbrechen und sich ebenfalls zurückziehen. Dutzenden Bewohnern gelingt es, sich über das Dach in das danebenliegende Gebäude zu retten.

Erst nach einer weiteren halben Stunde kann die Feuerwehr, diesmal unter dem Schutz der Polizei, das Feuer löschen. Sie rettet 22 Vietnamesen, die sich noch in den oberen Etagen des Gebäudes befinden. In Interviews erklärt der Landesinnenminister, für die Bewohner habe zu keiner Zeit eine Gefahr bestanden.

Das Sonnenblumenhaus nach den Angriffen
Das Sonnenblumenhaus nach den Angriffen

© Foto: Imago/Rex Schober


DIENSTAG, 25. AUGUST 1992

Nach den Ereignissen der voran gegangenen Nächte wird der Polizeidirektion Rostock die Einsatzleitung entzogen. Beamte des Schweriner Landespolizeiamts übernehmen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund ruft für 17 Uhr zu einer Demonstration auf, um Solidarität mit den Geflüchteten zu zeigen. 800 Menschen kommen.

Gegen 22 Uhr versammeln sich ein weiteres Mal hunderte Randalierer vor der ZAst, erneut fliegen Steine und Molotowcocktails, erneut brennen Autos. Diesmal setzt die Polizei sieben Wasserwerfer ein. Die Unterstützung und das Anfeuern durch Schaulustige fällt laut Polizei geringer aus als an den Vorabenden.


DIE ZEIT DANACH

Während die Gewalt als solche von Politik und Medien einhellig verurteilt wird, sind Ausmaß und Motivation umstritten. In einer Kabinettssitzung behauptet der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl beispielsweise, der Aufruhr sei „aller Wahrscheinlichkeit nach“ von ehemaligen Stasi-Leuten angezettelt und „generalstabsmäßig“ geführt worden. Die „Ostsee-Zeitung“ veröffentlicht Leserbriefe, die um Verständnis für die Täter werben. Im Laufe der folgenden Woche werden deutschlandweit mehrere dutzend Asylbewerberheime mit Steinen und Brandsätzen angegriffen.

Im Dezember einigen sich Union, FPD und SPD auf eine Verschärfung des Asylrechts: Der so titulierte „Asylkompromiss“ sieht unter anderem vor, dass Geflüchteten, die von einem sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik einreisen, künftig kein Grundrecht auf Asyl mehr zusteht.

Von den schätzungsweise 400 Gewalttätern des Pogroms werden weniger als 50 verurteilt, drei müssen Haftstrafen antreten. Die Verfahren ziehen sich teilweise über mehrere Jahre. Die letzten Urteile werden 2002 gesprochen, wobei sich die lange Zeit zwischen Tat und Prozess strafmindernd auswirkt.

Die obige Chronologie ergibt sich aus Dokumenten des Untersuchungsausschusses, Presse- und Zeitzeugenberichten sowie Publikationen der Initiative „Bunt statt braun“ sowie des Dokumentationszentrums „Lichtenhagen im Gedächtnis“.

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