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Tatort Berlin.

© Gestaltung: Tagesspiegel/K. Schuber | Fotos: Tagesspiegel/S. Leber, dpa/F. Bruns, imago/O. Wagner

Ex-Rocker im Zeugenschutz: Der Berliner Hells Angel, der seine Brüder verriet

Er gehörte Berlins brutalstem Rockerklub an. Dann brachte er seine Weggefährten lebenslänglich ins Gefängnis. Nun will Kassra Zargaran alles erklären.

Das Zeichen der Hells Angels trägt er immer noch am Körper. Man bemerkt es nicht sofort, wegen der vielen anderen Tätowierungen, aber auf seinem linken Unterarm prangt der Death Head, der Totenkopf mit Engelsflügel. Normalerweise hätte sich Kassra Zargaran das Motiv längst entfernen lassen müssen, so verlangen es die Klubgesetze. Aussteigern, die sich weigern, wird der Death Head zwangsweise übertätowiert oder mit einem heißen Bügeleisen unkenntlich gemacht. Es gab auch Fälle, in denen die Tattoos Abtrünniger mit dem Messer aus der Haut geschnitten worden.

„Der einzige, der über meinen Körper entscheidet, bin ich selbst“, sagt Kassra Zargaran. Und seine Zeit bei den Hells Angels sei Teil seiner Biografie. Die könne er nicht verleugnen, wolle er auch gar nicht. Der Death Head bleibt.

Er muss jederzeit mit Racheakten rechnen

Jahrelang gehörte Kassra Zargaran der gewalttätigsten Gruppierung der Hells Angels in Deutschland an – dem „Hells Angels MC Berlin City“. Dass es die heute nicht mehr gibt, liegt auch an Zargaran: Durch seine Aussage als Kronzeuge brachte er acht Mitglieder lebenslang ins Gefängnis, darunter das berüchtigte Oberhaupt, den Präsidenten Kadir Padir. Seitdem lebt Zargaran im Zeugenschutz, unter neuem Namen irgendwo in Deutschland. Er muss jederzeit mit Racheakten rechnen, im Kosmos der Rocker gilt er als vogelfrei.

Trotzdem ist Kassra Zargaran bereit, mit dem Tagesspiegel über seine Jahre bei den Hells Angels zu sprechen. Über die geheimen Regeln und Rituale, die Mitglieder befolgen müssen. Über die Lügen, mit denen die Rocker die Öffentlichkeit täuschen wollen. Auch über die Gewalttaten, die sie verüben.

Äußerlich hat er sich kaum verändert. Die Haare immer noch kurzgeschoren, der Rücken breit, die Arme muskelbepackt. Als der 35-Jährige an einem Dienstagvormittag vor dem Redaktionsgebäude des Tagesspiegels in Berlin-Kreuzberg erscheint, wirkt er entspannt und überaus freundlich.

Bedankt sich für das bereitgestellte Wasser und die Kekse, sagt aber, eigentlich brauche er nichts, nur vielleicht könne ihm jemand noch kurz den Weg zur Toilette zeigen, bevor das Gespräch losgeht... Es gab eine Zeit, da hat Kassra Zargaran Journalisten auf der Straße attackiert, nach ihnen getreten und sie beschimpft. Das war falsch, sagt er heute. Wie so vieles, was damals passiert ist.

Sieben Jahre lang saß Zargaran selbst im Gefängnis. Es wäre vermutlich deutlich länger geworden, wäre er nicht als Kronzeuge aufgetreten. Zargaran war einer der 13 Rocker, die im Januar 2014 im Gänsemarsch in das „Expect“ in der Reinickendorfer Residenzstraße einmarschierten. Ihr Ziel war ein Mann, der im hintereren Teil des Cafés an einem Tisch saß und Karten spielte. Ein Hells Angel schoss mehrfach auf ihn, anschließend flüchteten alle. Es war eine Hinrichtung.

Kadir Padir vor Gericht.
Kadir Padir vor Gericht.

© Gestaltung: Tagesspiegel/ K. Schuber / Foto: picture-alliance/ dpa

Die Tat, die in der Öffentlichkeit als der „Berliner Wettbüromord“ bekannt wurde, hatte damals Präsident Padir befohlen. Aus Rache, weil das Opfer, ebenfalls schwerkriminell, in den Wochen zuvor über die Hells Angels gespottet und deren Macht offen infrage gestellt hatte.

Zu diesem Zeitpunkt, sagt Zargaran, gehörten seiner Gruppe, auch Charter genannt, mehrere Stadtteile. Insbesondere Wedding und Reinickendorf. Niemand konnte dort Drogen verkaufen, ohne dass die Hells Angels ihren Segen gaben und an den Umsätzen mitverdienten.

Das Klubhaus lag in der Reinickendorfer Residenzstraße. Aber auch in anderen Gebieten Berlins hatte sich die Gruppe Einflussgebiete erkämpft: Auf dem Straßenstrich an der Oranienburger Straße mussten die Prostituierten einen Teil ihrer Einnahmen an die Rocker abgeben. Auf dem Nollendorfplatz in Schöneberg standen ausschließlich Drogendealer, die unter Aufsicht der Hells Angels arbeiteten.

In den seltenen Fällen, in denen ein Hells Angel zum Interview bereit ist, zum Beispiel als Gast in einer Fernsehtalkshow, beharrt er unter allen Umständen auf der Behauptung, dass sich die Männer im Klub lediglich fürs Motorradfahren interessieren. Dass sie höchstens in Ausnahmefällen mal kriminell werden, so wie es in jedem anderen Verein auch gelegentlich vorkommt. Und dass das schlechte Image des Klubs im Wesentlichen dadurch zustande komme, dass Staat und Medien massive Schmutzkampagnen gegen sie, die unbeugsamen Freigeister, führten.

„Was für ein Unsinn“, sagt Kassra Zargaran dazu. Es sei eine Leistung, solche Märchen in der Öffentlichkeit auszusprechen, ohne lachen zu müssen. Seiner Erfahrung nach gebe es drei unterschiedliche Motive, weshalb sich Männer den Hells Angels oder einem vergleichbaren kriminellen Klub anschlössen. „Da ist einmal der Typ, der Anerkennung und Zugehörigkeit möchte“, sagt er. Der es genießt, wenn er mit seinen „Brüdern“, denn als solche verstehen sie sich, eine Kneipe betritt und alle Anwesenden wissen: Mit denen legt man sich besser nicht an. Dies seien auch seine eigenen Beweggründe gewesen.

Der zweite Typ Mensch, den es in den Klub ziehe, sei der Sadist. Also jemand, der Freude daran habe, andere zu misshandeln, physisch oder mental. Den es erfülle, Schwächere zu unterdrücken.

Manche werden Rocker, um ihr Geschäft zu schützen

Und schließlich gebe es denjenigen, der einfach sein Geschäft absichern wolle. Also ein kriminelles Geschäft, dass er im Zweifel schon vor seiner Mitgliedschaft bei den Hells Angels betrieb. Drogen- oder Waffenhandel zum Beispiel, illegales Glückspiel oder Zuhälterei. „Street-Business“, sagt Zargaran dazu.

Wer in diesen Branchen tätig sei, könne sich bei Problemen – wenn einem zum Beispiel ein Konkurrent das eigene Territorium wegnehmen wolle oder wenn sich Geschäftspartner nicht an Abmachungen hielten – logischerweise nicht an die Polizei wenden. Also schließe man sich größeren kriminellen Strukturen an, die Schutz böten und einem im Ernstfall zum eigenen „Recht“ verhelfen könnten.

Das Klubhaus von „Berlin City“.
Das Klubhaus von „Berlin City“.

© Gestaltung: Tagesspiegel/ K. Schuber / Foto: imago stock&people

Das Charter „Berlin City“ existierte, weil Kadir Padir, der Präsident, 2010 von der verfeindeten Rockergruppe Bandidos mitsamt Gefolgschaft zu den Hells Angels gewechselt war. Grund dafür war, dass Padirs Bandidos-Gruppe den Hells Angels über Monate schwer zugesetzt und mehrere Mitglieder lebensgefährlich verletzt hatte.

Um die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu kippen, boten die Hells Angels ihrem ärgsten Feind den Seitenwechsel an. Fortan hatte Padir rund 90 Männer unter sich, darunter knapp 20 vollwertige Mitglieder, dazu einige Anwärter plus mehrere Gruppen, die gar nicht offizielle Hells Angels waren, sondern als Unterstützer galten.

Schwarze dürfen bis heute nicht Mitglied werden

Über seine Mitgliedschaft bei den Hells Angels und seinen Ausstieg hat Kassra Zargaran ein Buch geschrieben. Es erscheint übernächste Woche. Darin beschreibt er auch ausführlich eine weitere Besonderheit, die Padirs Charter „Berlin City“ ausmachte: Es bestand vor allem aus jungen Migranten, die bereits straffällig geworden waren.

Die großen, kriminellen Rockerklubs hatten in der Bundesrepublik zuvor fast ausschließlich aus weißen Deutschen bestanden, Migranten wurden teilweise bewusst aus den Strukturen rausgehalten. Schwarze dürfen – auch wenn die Hells Angels das offiziell bestreiten – bis heute nicht Mitglied werden. Das besagt ein rassistischer Kodex, der seit Gründung der Gruppe existiert.

Langhaarige Altrocker gegen migrantische Jungrocker

Dass sich sowohl die Hells Angels als auch die Bandidos in den frühen Nullerjahren öffneten und kampferprobte türkische und arabische Männer rekrutierten, ist Experten zufolge keineswegs gewachsener Toleranz geschuldet, sondern dem Umstand, dass beide Klubs Zuwachs brauchten, um sich gegen den jeweils anderen Klub im Kampf um Territorien behaupten zu können. Die neue Aufnahmepolitik führte allerdings dazu, dass nicht nur die Spannungen zwischen den verfeindeten Klubs eskalierten, sondern auch Konflikte zwischen den unterschiedlichen Lagern innerhalb eines Klubs ausbrachen.

Das wurde schon optisch deutlich, sagt Zargaran: Die traditionellen Rocker waren meist 20 Jahre älter, hatten lange Haare und Bierbauch, sahen ungepflegt und leicht verlottert aus. Seine eigenen Leute seien ganz anders aufgetreten. Hätten Markenklamotten von Adidas und Gucci getragen, viel Kraftsport gemacht. Zargaran sagt: „Das waren alles richtige Hauer bei uns.“ Der einzige wirklich Übergewichtige in der Gruppe sei der Bruder des Präsidenten gewesen, dem habe man das durchgehen lassen.

Dank ihres Personals und der Skrupellosigkeit des Präsidenten sei ihr Charter „Berlin City“ zwar nicht das reichste Deutschlands gewesen, aber immerhin das gewalttätigste: „Und deshalb standen wir weit oben in der Nahrungskette.“

Kadir Padir konnte sich nicht damit abfinden, dass diese Typen aus Hohenschönhausen als Nomads auftreten durften. Er glaubte, wir hätten den Titel viel eher verdient.

Kassra Zargaran

Eine besondere Rivalität bestand zu den Altrockern der Hells Angels, deren Klubhaus sich in einem in einem Plattenbauviertel in Hohenschönhausen befindet und die unter dem Namen „Nomads“ firmieren – ein Ehrentitel für besonders respektierte Hells-Angels-Untergruppen, der pro Land jeweils nur einmal vergeben wird. Kopf der Berliner „Nomads“ war der ehemalige Hooligan André Sommer.

Die Abneigung der migrantischen Neu- gegenüber Sommers Altrockern beruhte auf Gegenseitigkeit, heißt es. „Kadir Padir konnte sich nicht damit abfinden, dass diese Typen aus Hohenschönhausen als Nomads auftreten durften“, sagt Kassra Zargaran. „Er glaubte, wir hätten den Titel viel eher verdient.“

War Kopf der Berliner „Nomads“: André Sommer.
War Kopf der Berliner „Nomads“: André Sommer.

© Gestaltung: Tagesspiegel/ K. Schuber / Foto: imago/Olaf Wagner

Zargaran spricht eloquent, erklärt Zusammenhänge anschaulich und detailreich, ist offen für alle Nachfragen. Schweigsam reagiert er nur, wenn er zu seinem heutigen Leben im Zeugenschutz befragt wird. Gäbe er zu viel preis, würde das seine Sicherheit gefährden. Immerhin dürfe er noch Kontakt zu seiner Tochter haben, sagt er. Ansonsten habe sich praktisch alles für ihn geändert.

Ich bin zwar nicht chronisch kriminell, aber wenn ich ehrlich bin, hätte das alles auch ganz anders ausgehen können.

Kassra Zargaran

Seinen heutigen Alltag beschreibt er als „ruhig, spießig und otto-normalbürgerlich“. Und das begrüße er. „Ich bin dankbar, dass ich eine zweite Chance bekommen habe. Ich bin zwar nicht chronisch kriminell, aber wenn ich ehrlich bin, hätte das alles auch ganz anders ausgehen können.“

Ob er keine Angst hat, dass er in seiner neuen Heimat auf der Straße von den falschen Leuten erkannt wird? Dass ein Anwohner sich wundert und weitertratscht, dass ein berüchtigter Krimineller, der wegen Mordes im Gefängnis saß, unter neuem Namen in der Nachbarschaft lebt? Und dass sich diese Nachricht dann herumspricht, bis sie irgendwann bei den ehemaligen Brüdern landet?

Er sei kein ängstlicher Typ, und Angst sei sowieso ein schlechter Ratgeber, sagt Zargaran. „Ich bin wach und passe auf, aber ich möchte mir von diesen Typen auch nicht meine Lebensqualität nehmen lassen.“ Außerdem bekomme er weiterhin Schutz von der Polizei.

Mit einigen Beamten des Berliner Landeskriminalamts, die er damals während seiner monatelangen Aussage kennenlernte, sei er bis heute freundschaftlich verbunden. Positive Erinnerungen habe er auch an die Ermittler in den Vernehmungen. Eine Frau, die ihn verhörte, habe einmal zu ihm gesagt: „Herr Zargaran, wie schade, dass Sie nicht Polizist geworden sind, so gut, wie Sie hier mitarbeiten.“

Später in der Gerichtsverhandlung habe sie ihn gegrüßt, doch leider habe er nicht zurückgrüßen dürfen. Sein Anwalt hatte ihn vorab gewarnt, dass solche Gesten von der Gegenseite genutzt würden, um die Glaubwürdigkeit der Polizistin anzuzweifeln.

Kassra Zargaran lebt im Zeugenschutz.
Kassra Zargaran lebt im Zeugenschutz.

© Gestaltung: Tagesspiegel /K. Schuber | Foto: Tagesspiegel/Sebastian Leber

Aufgewachsen ist Kassra Zargaran in Norderstedt bei Hamburg. Sein Vater war Optiker, seine Mutter Erzieherin. Nachdem er die Schule schmiss, kam er in Kontakt mit dem Rotlichtmilieu, wurde Türsteher eines Bordells auf der Reeperbahn – und beschloss schließlich, Rocker zu werden. Im Hamburger Chapter der Hells Angels fühlte er sich nicht wohl, dort seien hauptsächlich unmotivierte Zuhälter gewesen, Zargaran nennt sie „Hamburger Rotlicht-Asis“.

Also zog es ihn nach Berlin, zu Kadir Padir, dem Großmaul mit hohem Aggressionspotential und niedriger Hemmschwelle, der sein Charter ganz nach oben führen wollte. Padir sei „sehr berechnend, sehr kalkulierend, auch sehr manipulativ“. Nur habe er, Zargaran, das zu Beginn leider nicht durchschaut.

Die Massenschlägerei am Nollendorfplatz

Zargarans erste Massenschlägerei in Berlin fand am Schöneberger Nollendorfplatz statt. Er saß mit seinen Brüdern im Restaurant, als eine Gruppe Bandidos an ihnen vorbeizog. Sofort seien sie aufgesprungen, ein Glas flog, Messer wurden gezückt. Und dann gingen die Gruppen aufeinander los. Nach kurzer Zeit traf die Polizei ein. Beide Lager rannten davon, Zargaran stellte sich noch Polizisten in den Weg und schlug auf sie ein, damit seine Brüder, die bereits vorbestraft waren, entkommen konnten.

Zargaran erhielt eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Doch die Vorteile, sagt er, überwogen kurzfristig: Intern habe ihm die Aktion eine Menge Ehre eingebracht.

Die Berliner Polizei versuchte damals, den Rockern größtmöglich auf die Nerven zu gehen. Unter anderem mit ständigen Kontrollen, die an Schikane grenzten. Im Gespräch sagt Zargaran nun, diese Politik der Nadelstiche habe damals gewirkt. An manchen Tagen sei er sieben Mal angehalten und kontrolliert worden. Jeweils für eine Stunde.

Die haben mich kontrolliert, dann weiterfahren lassen, und ein paar Straßen weiter haben sie mich wieder rausgewunken, und der ganze Stress begann von vorn.

Kassra Zargaran zur Taktik der Polizei

„Das waren dieselben Beamten“, sagt er. „Die haben mich kontrolliert, dann weiterfahren lassen, und ein paar Straßen weiter haben sie mich wieder rausgewunken, und der ganze Stress begann von vorn.“ Zargaran sagt das heute anerkennend. Damals war er wütend und frustriert.

Andererseits hätten seine Leute der Polizei oft genug auf der Nase herumgetanzt. Zum Beispiel 2012, als sie den Tipp bekamen, dass ihr Charter verboten werden solle. Wer genau die Information durchstach, ist bis heute nicht geklärt. Damit der Staat nicht das gesamte Vereinsvermögen und ihre teuren Motorräder einziehen konnte, löste sich Padirs Truppe damals über Nacht selbst auf, machte das Klubhaus dicht, vernichtete Beweismittel und brachte alle Wertgegenstände in Sicherheit.

Kurz darauf mietete sie eine Straße weiter ein Café an, das „Sahara“, es fungierte als neues Hauptquartier. Außer den Hells Angels und ihren Unterstützern wagte sich niemand in dieses Café. Journalisten, die sich mit der Kamera näherten, wurden beschimpft, bespuckt, auch massiv bedroht.

Aus einem aufgelösten wurden vier neue Charter

Außerdem gründete die Truppe von Padir in der Stadt vier neue Charter. Sie nannten sich Westtown, Northtown, Southtown, Easttown und achteten darauf, dass sich die vorbestraften Mitglieder des aufgelösten Charters gleichmäßig auf die neuen Sektionen verteilen, um dem Staat keinen unnötigen Grund für erneute Vereinsverbote zu geben. Anwälte rieten zu diesem Schritt.

„Intern war aber klar, dass dieses Täuschungsmanöver nichts an den wahren Machtverhältnissen ändert“, sagt Zargaran. „Selbstverständlich hatte weiterhin ausschließlich Kadir Padir das Sagen.“ Sie planten, verschiedene Immobilien als neue Klubhäuser anzumieten, hatten sich schon Objekte angeschaut...

Rocker mit Anwalt.
Rocker mit Anwalt.

© Gestaltung: Tagesspiegel/ K. Schuber / Foto: picture-alliance/ dpa

Doch dann befahl Kadir Padir den Mord im Wettbüro. Direkt nach der Tat fuhren die Rocker zu Burger King in Prenzlauer Berg. Padir verdrückte einen Burger nach dem nächsten, die meisten anderen hatten keinen Appetit. Zargaran sagt bis heute, er habe nichts von dem Mordauftrag gewusst. Nach dem Abstecher in den Burger-Laden versammelte Padir seine Leute um sich, sagte: „Es ist, wie es ist.“ Und dann noch: „Wenn ihr festgenommen werdet, kümmern sich unsere Anwälte um euch.“

Als die meisten Tatverdächtigen bald darauf in Untersuchungshaft saßen – einige waren auf den Bändern der Überwachungskameras im „Expect“ leicht zu identifizieren–, bekam Zargaran Zweifel, ob der Anwalt, der für ihn abgestellt war, überhaupt in seinem Sinn handelte oder nicht eher im Sinn des Klubs. Der Anwalt habe ihn zum Beispiel kein einziges Mal gefragt: „Was ist denn wirklich passiert?“

Zargaran schwante, dass er mit seinen Brüdern für viele Jahre hinter Gitter wandern würde, während Padir fein raus wäre. Darum entschied er sich auszupacken.

Der Klub und die nach außen propagierte Bruderschaft, das war nichts weiter als eine Illusion. Eine dumme Idee. Von Idioten für Idioten. Nichts davon war echt.

Kassra Zargaran

Die Idee einer loyalen Gemeinschaft, schreibt Kassra Zargaran in seinem Buch, habe es in Wahrheit nie gegeben: „Der Klub und die nach außen propagierte Bruderschaft, das war nichts weiter als eine Illusion. Eine dumme Idee. Von Idioten für Idioten. Nichts davon war echt.“ Es sei eine Scheinwelt gewesen, der sich Zargaran zeitweise leider vollkommen verschrieben habe. Es gab so viele Indizien, auch scheinbare Kleinigkeiten, an denen er die Illusion hätte erkennen können. Zum Beispiel die Kuttenfrage. Es ist eine eiserne Regel, dass jedem Rocker genau eine schwarze Lederkutte zusteht. Er muss sie pflegen und wie einen Schatz behandeln. Kadir Padir, der Präsident, hat sich nicht dran gehalten. „Der hatte einfach drei Kutten. Eine fürs Motorradfahren, eine zum Ausgehen, eine für Klubsitzungen.“

Der Besitz einer Harley-Davidson ist zwingende Bedingung, um den Hells Angels anzugehören

Für die Illusion einer loyalen Gemeinschaft hatte sich Zargaran nach seinem Umzug nach Berlin sogar verschuldet. Wer zu den Hells Angels will, muss seine Rockerkarriere zunächst als „Hangaround“ beginnen, kann dann zum „Prospect“, also Anwärter auf die Vollmitgliedschaft, aufsteigen. In beiden Stufen muss er rund um die Uhr für den Klub da sein, den höhergestellten Rockern Gefallen tun, das Klubhaus putzen und dort Wachdienste schieben, die anderen auch bewirten.

In dieser Zeit lösen Anwärter ihre alten sozialen Kontakte, eine typische Sektendynamik, sagt Zargaran. Vor allem bleibt ihnen keine Zeit, einem geregelten Beruf nachzugehen. Außerdem entstehen Kosten: 1500 Euro für die Aufnahme, 150 Euro monatlich als Mitgliedsbeitrag, dazu Tausende zur Anschaffung einer Harley-Davidson. Der Besitz eines Motorrads dieser Marke ist zwingende Bedingung, um den Hells Angels anzugehören, das ist schon seit den späten 1940ern so, als die Gruppe in Kalifornien gegründet wurde und sich dann schnell in den USA ausbreitete.

Eine Tracht Prügel zur Beförderung

In seinem Buch beschreibt Kassra auch, wie er schließlich zum Vollmitglied wurde. Es gab ein Initiierungsritual, das sich auch bei anderen Gruppen findet, in denen Männer glauben, sie seien die Allerhärtesten und die Elite. Kassra wurde ins Klubhaus gerufen, angeblich zu einer Besprechung. Dort stürmten die Übrigen auf ihn zu, traten und schlugen ihn. Zargaran gefiel es. Weil es bedeutete, dass er jetzt zu den Auserwählten gehörte. Natürlich bedeutete es auch, dass er beim nächsten Mal, wenn wieder ein Neuer aufgenommen werden würde, selbst zuschlagen dürfte.

Auch in der Serie ,4 Blocks‘ wurden wir verewigt, zumindest indirekt.

Kassra Zargaran

Die Truppe von Kadir Padir ist in mehreren Musikvideos zu sehen. Eines davon stammt von dem Rapper Fler und heißt „Echte Männer“, die Rocker posieren darin vor ihrem Hauptquartier „Sahara“ und blicken grimmig in die Kamera. „Auch in der Serie ,4 Blocks‘ wurden wir verewigt, zumindest indirekt“, sagt Kassra Zargaran. Die dort vorkommende Rockertruppe sei ihnen nachempfunden.

Allerdings hätten die Macher der Serie großes Glück gehabt. Dass nämlich die meisten aus ihrem Charter zu dem Zeitpunkt, als die erste Staffel ausgestrahlt wurde, bereits in Untersuchungshaft saß. In der Serie gibt es unter den Rockern Drogensüchtige und auch einen Homosexuellen – beides wäre nach ihren damaligen Werten völlig inakzeptabel gewesen und als Verunglimpfung ihres Charters empfunden worden: „Wären wir noch draußen gewesen, hätte es sicher keine zweite Staffel gegeben.“

Wenn Zargaran heute von dem verqueren Weltbild der Rocker und den schrägen Wertvorstellungen spricht, dann meint er auch die Art, wie sie Frauen behandelten. Die waren höchstens Beiwerk. Den Klubs beitreten dürfen sie nicht. Manche Hells Angels haben ihre Frauen auf den Strich geschickt, sagt Zargaran.

Viele Frauen haben sich die Namen ihrer Lebensgefährten auf den Körper tätowiert

Viele Frauen hätten sich die Namen ihrer Lebensgefährten auf den Körper tätowiert. Wie ein Etikett, um klarzumachen, um wessen Eigentum es sich hier jeweils handelt. Die Freundin von Padir habe gleich zwölf solcher Tätowierungen gehabt. Doch zumindest in ihrem Charter sei dies immer ohne Zwang passiert, die Frauen hätten das freiwillig gemacht, sagt Zargaran.

Der Prozess beginnt Ende 2014, verhandelt wird im Hochsicherheitssaal 500 des Kriminalgerichts. Als Kronzeuge sitzt Kassra Zargaran abgeschirmt in seiner Sicherheitsbox hinter schussfesten Scheiben, die meisten übrigen Rocker sitzen ihm direkt gegenüber auf der anderen Längsseite des schlauchförmigen Saals.

Zu Beginn verhalten sie sich unauffällig. Besonders Kadir Padir habe sich sichtlich Mühe gegeben, möglichst zivilisiert und seriös zu erscheinen. Zargaran sagt: „Ich habe Blickkontakt zu ihm gesucht. Aber er achtete darauf, mir nicht in die Augen zu schauen.“

Mit der Zeit bröckelt Padirs Fassade. Er erscheint in Sportkleidung, packt ständig mitgebrachtes Essen aus, pöbelt und beleidigt die Staatsanwaltschaft und den Kronzeugen. Manche Angeklagten schlagen gegen die Scheiben ihrer Boxen, rufen etwa „Halt’s Maul, du Wichser!“, wenn Kassra aussagt. Sein Anwalt wird mehrfach mit Gegenständen beworfen.

Am Ende werden Kadir Padir und sieben seiner Untergebenen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Drei andere Tatbeteiligte sind bis heute nicht gefasst. Sie sind nach dem Mord in die Türkei geflüchtet, führen dort unbehelligt ihr Rockerleben fort, zusammen mit Hells Angels, die sich aus anderen deutschen Chartern abgesetzt haben oder abgeschoben wurden. Timur A. zum Beispiel, der 2009 in Duisburg einen verfeindeten Bandido auf offener Straße erschoss. Oder Necati A., bekannt als „Pate von Köln“, in Deutschland wegen Rädelsführerschaft einer kriminellen Vereinigung und schwerem Menschenhandel verurteilt.

Gelegentlich posieren die Berliner auf Fotos, die sie dann über die sozialen Medien verbreiten, mit einem „Filthy Few“-Abzeichen auf ihren Kutten. „Filthy Few“ lässt sich mit „Dreckiges Dutzend“ übersetzen. Fragt man Hells Angels, was es damit auf sich hat, erzählen sie einem Geschichten wie jene, das Abzeichen sei für Mitglieder bestimmt, die abends an der Bar als längste an der Theke aushalten. „Auch das ist natürlich dreist gelogen“, sagt Kassra. In Wahrheit wird das Ehrenabzeichen intern ausschließlich an Rocker vergeben, die an einem Mord beteiligt waren oder zumindest an einer schweren Verletzung eines Gegners.

Du bist ein Flop und wirst immer ein Flop bleiben.

Kadir Padir an einem der letzten Verhandlungstage zu Kassra Zargaran

An einem der letzten Verhandlungstage hat Padir doch noch einmal etwas zu Zargaran gesagt: „Du bist ein Flop und wirst immer ein Flop bleiben.“ Zargaran sagt, damit könne er gut leben.

Er geht davon aus, dass Padir auch aus dem Gefängnis heraus noch Macht besitze und Befehle erteilen könne. Dass aber die Männer, die aus seinem alten Charter noch in Berlin leben und sich auf freiem Fuß befinden, viel zu schwach seien, um sich noch durchsetzen zu können. Gegen Rivalen – zum Beispiel arabische Großfamilien oder die Tschetschenen – hätten sie keine Chance.

Da Padir die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, könnte er nach seiner Entlassung abgeschoben werden. Von den dortigen Hells Angels würde er als Held gefeiert werden.

Kassra Zargarans Autobiografie „Der Perser. Wie ich ein Hells Angel wurde, als Kronzeuge vor Gericht auspackte und im Zeugenschutz landete“ erscheint am 19. Juli im Riva-Verlag.

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