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Der israelische Premier Netanjahu während der Knessetsitzung.

© AFP/MENAHEM KAHANA

Update

Gegner kündigen „Tag der Störung“ an: Israels Parlament billigt Kernelement der umstrittenen Justizreform

Nach dem Willen der Regierung von Premier Netanjahu sollen Richter nicht mehr Entscheidungen von Ministern für nichtig erklären dürfen. Nun nimmt der Entwurf die wohl größte Hürde.

| Update:

Trotz einer beispiellosen Protestwelle scheint Israels Regierung von Premier Benjamin Netanjahu entschlossen, ihre umstrittene Justizreform voranzutreiben: Am Montagabend billigte das Parlament in erster Lesung ein Kernelement des geplanten Gesetzesvorhabens.

Nach einer lebhaften Parlamentsdebatte stimmten 64 Abgeordnete für den Gesetzentwurf, was der Zahl der Abgeordneten der Regierungskoalition entspricht. Die 56 Oppositionsabgeordneten votierten geschlossen dagegen.

Zwar sind nach dieser ersten Abstimmung noch zwei weitere nötig, doch da die Koalitionsparteien über eine stabile Mehrheit im Parlament verfügen, dürfte es sich dabei um eine Formsache handeln. Bis Ende des Monats will die Regierung das Gesetz beschließen.

Der Gesetzentwurf zielt auf die sogenannte „Doktrin der Angemessenheit“ ab, nach der der Oberste Gerichtshof bisher Entscheidungen der Regierung für unangemessen und damit nichtig erklären kann.

Das Gericht wandte diese Doktrin beispielsweise an, als es den Ministerpräsidenten Netanjahu daran hinderte, den Vorsitzenden der ultraorthodoxen Shas-Partei, Aryeh Deri, zum Innen- und Gesundheitsminister zu ernennen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will die Justizreform durchsetzen.

© dpa/GIL COHEN-MAGEN

Deri war mehrfach wegen Steuervergehen verurteilt worden und hatte 2021 im Rahmen einer Vereinbarung mit der Justiz seinen Parlamentssitz aufgegeben.

Vorwürfe gegen das Oberste Gerichtshof

Die „Doktrin der Angemessenheit“ ist nicht gesetzlich verankert, sondern ergibt sich aus dem israelischen Grundgesetz und wird vom Obersten Gerichtshof seit Jahrzehnten angewandt. Befürworter der Reform werfen dem Gericht vor, die Anwendung der Doktrin in den 90er Jahren erheblich ausgeweitet zu haben und sie seither zu missbrauchen, um in politische Entscheidungen einzugreifen.

Das ist nicht die Herrschaft des Rechts oder der Demokratie. Das ist die Herrschaft der Richter und Juristen.

Simcha Rothman, Mitglied der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus

Die „Doktrin der Angemessenheit“ bedeute, „zu wissen, dass am Ende ein Richter kommt und für dich entscheidet, wenn ihm deine Entscheidung nicht gefällt“, schrieb Simcha Rothman von der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus und eine der treibenden Kräfte hinter der Reform kürzlich auf Twitter. „Das ist nicht die Herrschaft des Rechts oder der Demokratie. Das ist die Herrschaft der Richter und Juristen.“

Rechtsextreme Partei könnte die Polizei stärker beeinflussen

Gegner der Maßnahme argumentieren, die Doktrin sei ein wichtiges Mittel in der Hand des Gerichts, korrupte oder willkürliche Personalentscheidungen zu stoppen. So könnte Netanjahu mit Deri einen Mann zum Innenminister machen, der mehrfach rechtskräftig verurteilt wurde.

150.000
Demonstranten haben nach Medienberichten am Wochenende gegen die Justizreform protestiert.

Und Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit und Vorsitzender der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke, könnte Posten in der ihm unterstellten Polizei „mit Leuten füllen, die ihm gefallen“, erklärt die Rechtsexpertin Rivka Weill von der Reichman University in Herzliya. Kritiker der Regierung halten dieses Szenario für umso gefährlicher, als Ben-Gvir die Polizei regelmäßig dazu drängt, härter gegen Demonstranten vorzugehen.

Doch die Abschaffung der Doktrin könnte noch weitreichendere Folgen haben. „Damit wäre es viel leichter, die Generalstaatsanwältin zu entlassen“, sagt Weill.

Protestbewegung kündigt „Tag der Störung“ an

Kritiker Netanjahus spekulieren schon lange, dass sich dahinter eines der wichtigsten Ziele des Regierungschefs verbirgt: Er könnte mithilfe seiner Regierung dafür sorgen, dass die Nachfolgerin der amtierenden Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara ihm deutlich wohlgesonnener ist - und womöglich sogar Schritte einleiten könnte, um das Verfahren gegen Netanjahu wegen des Verdachts auf Korruption, Veruntreuung und Bestechung zu stoppen.

Proteste am Tag vor dem Parlamentsvotum.

© AFP/JACK GUEZ

Die Organisatoren der Protestbewegung, die sich seit Anfang des Jahres gegen die Reformpläne der Regierung gebildet hat, haben für den Dienstag einen „Tag der Störung“ angekündigt.

Geplant sind unter anderem Straßenblocken, Streiks und Proteste am internationalen Ben-Gurion-Flughafen. Mehrere große Unternehmen und Universitäten haben angekündigt, sich den Protesten anzuschließen, und Hunderte Angehörige von Elite-Einheiten der Armee drohen, ihren Reservedienst zu verweigern, sollte der Gesetzentwurf beschlossen werden.

Taktikwechsel der Regierung scheitert

Eben solche Drohungen waren es, die bereits im März Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant dazu bewogen, sich öffentlich für einen Stopp der umstrittenen Reform auszusprechen. Netanjahu feuerte ihn anschließend dafür – nur um kurz darauf jedoch selbst die Gesetzgebung einzufrieren und Gallant schließlich doch im Amt zu belassen.

Die Abschaffung der Doktrin bedeutet noch nicht den Untergang der israelischen Demokratie.

Rivka Weill, Professorin für Rechtswissenschaften in Tel Aviv

Seitdem hat die Regierung ihr Vorgehen verändert und sich in den Worten israelischer Analysten auf eine „Salamitaktik“ verlegt: Anstatt die gesamte Reform zur Abstimmung zu bringen, geht sie nun schrittweise vor. Sollte sie gehofft haben, damit weniger Proteste zu provozieren, hat sie sich offenbar geirrt.

„Dies ist kein gewöhnliches Gesetz, und es kein gewöhnlicher Tag“, schrieb der Oppositionsführer und Vorsitzende der liberalen Yesh-Atid-Partei Yair Lapid am Montag auf Twitter. „An diesem Tag gab die israelische Regierung bekannt, dass die Gesetze für sie nicht mehr gelten.“

Ganz so schwarz sieht die Rechtsexpertin Rivka Weill die Lage nicht. Auch wenn die Doktrin abgeschafft würde, sagt sie, „bedeutet das noch nicht den Untergang der israelischen Demokratie.“ Zudem habe die Protestbewegung ihre Stärke wieder und wieder bewiesen: „Der Kampf geht weiter.”

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